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Blanks Zufall: Roman

Blanks Zufall: Roman

Titel: Blanks Zufall: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Sidjani
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männlich. Aber während der Schrei eines Neugeborenen das Leben begrüsst in all seiner erschreckenden Pracht, ist dieser Schrei von Angst erfüllt, das Leben wieder zu verlieren.
    Ein erzwungener Abschied. Der Schrei wird zum Kreischen, ein lauter, gequälter Ton. Es ebbt wieder ab, nur um kurz darauf von Neuem in Höhen aufzusteigen, die seinem Sender bestimmt unkontrolliert entweichen. Die Gespräche um Marcus verstummen, er selbst verstummt, und das Schreien scheint ewig anzudauern.
    Es ist Maurice, der um sein Leben schreit, das begreift Marcus, als er das „Hilfe!“ vernimmt. Eben war Maurice mit Tim und Karsten vor die Tür gegangen, um zu kiffen (wo sind die beiden denn?; stehen sie etwa daneben?). Marcus war in einem Gespräch mit seinen Arbeitskollegen über ein neues Makro-Programm, das ihnen vieles an Arbeit ersparen soll. Jetzt sind alle still, nur die Musik spielt als gäbe es in diesem Moment einen Grund zum Feiern.
    Maurice schreit und Marcus weiß, das ist der nächste Moment, nicht mehr seiner und doch mit ihm verbunden. Er dreht sich um, um aus dem Fenster zu schauen. Der Hamburger Berg scheint fast menschenleer, vereinzelt rennen Menschen an seinem Blickfeld vorbei, aber nur auf der anderen Straßenseite, als traute sich keiner hinüber. Sie rennen, verdammt, denkt Marcus, wohin rennen sie nur?  
    Aus diesem Szenario kommt etwas Großes in Marcus Sicht. Laut dröhnend prallt ein Körper gegen die meterhohe Scheibe, dass sie in ihrer Fassung wackelt. Der Schrei ist verstummt. Jana macht einen erschreckten Laut, der fast im Lärm der Bar untergeht. Andere schreien kurz auf, gehen näher an die Scheibe um zu sehen, was da ist.
    Marcus bleibt ruhig, als geschehe nichts, aber es ist keine innere Ruhe, das weiß er, so etwas trügt, hat ihn schon oft verraten, es ist die Taubheit, die da versteckt, was all die anderen jetzt fühlen, die aufkeimende Panik. Dunkle Flecken an der Scheibe, wo der Kopf gegen schlug. Marcus erkannte Maurices Jacke sofort, dreht sich wieder um, starrt kurz in die sprachlosen Gesichter seiner Kollegen, dann verkrampft er seine Hände an seiner Hose, greift den Stoff auf seinen Oberschenkeln und lässt wieder los, greift und lässt los. Wer auch immer Maurice gegen die Scheibe warf, ich finde ihn, ich finde ihn und werde...
    Marcus atmet tief ein und wieder aus, wiederholt und wiederholt das Prozedere. Sein Gesicht schmerzt, er muss es wieder zu dieser Grimasse verzogen haben, diesen Unhold, den er so perfekt verstecken konnte die letzten Jahre (was daran lag, dass ich kiffte, verdammt). Er blickt zu seinen Kollegen, doch sie sind mit sich selbst beschäftigt. Niemand nimmt Notiz von seiner grotesken Verwandlung, die sich eigentlich nur in seinem Inneren abspielt, die er aber glaubt, nach außen zu zeigen, die ganze Zeit. Er blickt um sich, hektisch, taub, Rauschen, Musik, ein wummernder Bass.
    Frank, wo ist Frank?, denkt er und erinnert, dass er zu Jenny an die Bar ging. Dann wird die Haustür aufgestoßen...
    Aufgerissen...
    Dumpft prallt sie gegen die Wand...
    Etwas gelangt ins Innere, jenes Etwas, das Maurice gegen das Fenster warf, das begreift Marcus, noch bevor sich der Vorhang teilt und das Chaos ins 'Raschinskis' einfällt.  
    Und alles geschieht so schnell und dauert doch eine Ewigkeit. Eigentlich nur wenige Minuten, vielleicht nur Sekunden, was nun geschieht, aber es ist ein langsames Umblättern zum nächsten Bild. So langsam wie Marcus als Kind mit dem Kopf auf das Lenkrad stieß, bis die Struktur des Leders eindeutig zu erkennen war. So viele Details, die in der normalen Zeit einfach untergehen und jetzt deutlich präsentiert werden. Wie der Schrei von eben nun um sich greift, wie ein Virus, beide Geschlechter ergreift, erst schreit ein Mann, dann zwei, dann mischen sich gleich drei Frauen in den Chor der Panik. Nicht immer ein Kreischen, aber der Schrei nun ein Vielfaches seiner selbst und darum unerträglich.
    Die Menschen in der Bar, zahlreicher nun als noch bei Marcus' Auftritt, dicht gedrängt und bis eben feiernd und flirtend, lachend und trinkend, flüchten hinaus, schreiend und kopflos in die Nachtluft des Kiez. Aber es sind nicht viele, die Marcus durch das Fenster sieht, die es geschafft haben zu entkommen, bevor das Etwas fortführen kann, was es mit Maurice begonnen hat. Die ersten, die es erwischt, stehen am Eingang. Nicht nur die Panik erwischt sie, die wie Funken eines Wildfeuers auf jeden überspringt und ihn mit dem Willen infiziert, sofort

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