Blanks Zufall: Roman
sie zuvor angehoben hatte) und starrt auf den Boden. Er weiß, er müsste fliehen, er weiß, er muss hier weg, aber er will nicht. Das taube Rauschen ist so laut, so vertraut intensiv, dass er nur hier sein kann, hierher gehört.
Dann folgt ein nächster Moment, in dem Marcus bemerkt, dass keiner mehr da ist, keiner, der steht oder läuft, auch Lars der DJ ist weg. Und das Schreien verstummt und es wird ersetzt von einem noch fürchterlicherem Laut. Einem Laut, den Marcus niemals hören wollte, den er am meisten verabscheut, was er erst bemerkt, als er ihn vernimmt. Das Jammern und Ächzen der Verletzten, die zwar einen Angriff überlebten, aber jetzt lieber tot wären als zu leiden.
Als Marcus sich endlich von seiner Position löst (warum bin ich nicht geflüchtet wie all die anderen?; was ist bloß los mit mir?), sieht er das Ergebnis des Chaos. Neben dem Tisch, an dem Marcus saß, liegt ein Mann auf seinem Bauch, der Kopf ist unnatürlich angewinkelt gegen die Holzplatte einer Couch gepresst, er scheint nicht zu atmen. Vor dem Eingang liegen vier Körper, nicht auszumachen, ob sie noch am Leben sind. Auf der Tanzfläche und weiter hinten auf dem Weg zum Klo liegen weitere, unmöglich zu zählen. Um die meisten Körper bilden sich dunkle, nasse Lachen, in denen sich das schummrige Licht spiegelt. Die Hocker am Tresen sind umgestürzt wie Kegel nach der Wucht einer Kugel. Und zwischen ihnen der Schatten, gebeugt und zu dunkel um näher zu definieren, was das ist, das dort hockt.
Dann erblickt Marcus Franks Schuhe und den Ansatz seiner Schienbeine, die unter dem Schatten hevor schauen. Und er hört das leise Wimmern seines Freundes. Marcus dreht sich zu dem Tisch, an dem er saß, der einzige, der nicht umfiel, und schaut nach einer Waffe (irgendwas, mir egal, hauptsache, ich kann verletzen). Er nimmt eine Bierflasche in die Hand (das war Janas Flasche, oder?) und schlägt ihre Unterseite an die Tischkante. Nur ein Klong!, Marcus schlägt erneut, diesmal kräftiger, dreister und zerschlägt damit das Glas, dass nur eine scharfkantige Oberseite übrig bleibt, aus der eine Spitze hervor ragt.
Ohne weiter zu überlegen und ohne weiter zu denken als bis zu diesem Verlangen, diesem Schatten das Glas in den Körper zu rammen, geht er an Daniela, die sich nicht rührt, vorbei, auf den Schatten zu, der langsam an Kontur gewinnt. Und Marcus hätte in einem anderen Moment bestimmt gelacht. Wenn dies ein Film wäre vielleicht, wie albern. Der Schatten scheint ein riesiger Mann in einem schwarzen Fellkonstüm zu sein, der dort bei seinem Freund ist, über ihm kauert und sein Gesicht ganz nah an den liegenden Körper hält.
Ein verdammt riesiger, breitschultriger Mann in einem Kostüm, der sinnlos eine Bar stürmt und die Anwesenden nieder reißt. Marcus steht bei ihm, es war ihm gleichgültig, ob der Irre seine Schritte vernahm, als er das gutturale Knurren vernimmt, ein Laut, der nach nichts Menschlichem klingt. Marcus holt mit seinem rechten Arm aus und sticht die abgebrochene Flasche in das Chaos, durch Fell und Fleisch, dass es von Frank ablässt, seinen Kopf hebt und aufheult. Marcus sticht wieder zu und noch einmal, tiefer hinein in dieselbe Wunde und neben sie und wieder hinein, und er spürt sich wieder. Dieser Moment, wenn er jemanden verletzt. Das Rauschen in den Ohren, das Pulsieren in den Adern, der Rausch.
Er will diesen Irren aufschlitzen, niemand greift seinen Freund an!, als der Schatten ausschlägt. Der rechte Fellarm ist plötzlich vor seinen Augen, senkt sich ein wenig in der Bewegung und trifft hart auf seine Brust, dass Marcus der Atem weg bleibt. Noch während er nach Luft schnappt, verliert er die Kontrolle über seinen Körper, spürt, wie er sich durch die Wucht des Schlages anhebt, dann ist Marcus nicht mehr am Boden. Im Flug zischt Luft an ihm vorbei und dröhnend landet er an der Wand neben dem DJ-Pult, sein Kopf knallt gegen Beton. Er fällt auf die Tanzfläche, auf seine provisorische Bühne, neben die anderen Körper, und verliert das Bewusstsein.
ALS MARCUS ERWACHT hat er einen bitteren, metallischen Geschmack im Mund und dieses komische Gefühl, alles schon einmal erlebt zu haben, wie damals, als er aus dem Koma-Traum erwachte. Vielleicht ist er das nie, erwacht, und seine Mutter und er sind schon lange tot und jetzt endlich erwacht er aus seinem Traum, gelebt zu haben. Dann öffnet er seine Augen und sieht die Verletzten und Toten im 'Raschinskis'. Der Schatten ist weg und Ruhe
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