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Blanks Zufall: Roman

Blanks Zufall: Roman

Titel: Blanks Zufall: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Sidjani
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dabei war, und vielleicht dadurch imstande ist, Marcus ein Stück Normalität zurück zu geben, auch wenn er nicht weiß, was das sein soll.
    Die Menschen im Bahnwaggon wissen tatsächlich nichts von dem, was gestern geschah, aber sie lesen jetzt darüber. Marcus sieht von seinem Platz aus zwei der vom Chaos unberührten Menschen, einer sogar ihm direkt gegenüber, die jene Tageszeitung in der Hand halten, die Marcus manchmal in der Bahn findet und liest; um sich aufzuregen über ihre Inhaltslosigkeit.
    Lesen ist der falsche Begriff, man kann diese Zeitung nicht lesen, nicht einmal Zeitung nennen, es sind sinnentleerte hohle Phrasen, die Marcus da entgegen schreien, und auch heute macht das Blatt sich selbst die beste Ehre, protzt auf seiner Titelseite mit dem Chaos, das nicht nur Marcus' Abend zerstörte. Am schlimmsten ist die Respektlosigkeit, findet er, und würde seinem Gegenüber das Drecksblatt am liebsten aus der Hand reißen, um es zu verbrennen. 
    Blutnacht auf dem Kiez!, schreit es in großen Lettern, darunter ein Bild von Einsatzwagen und -kräften vor dem KFC an der Ecke zur Reeperbahn. Eine Bilanz des Schreckens, heißt es weiter, 17 Tote und 32 Verletzte in 2 Stunden. Alles zur unfassbaren Tat auf den nächsten Sonderseiten.
    Alle Ehre, denkt Marcus und erinnert die Reporter letzte Nacht, wie sie angewatschelt kamen, bevor die Sanitäter eintrafen, wissbegierig (gierig ist das richtige Wort), Anteilnahme vortäuschend; als sie ihm Fragen stellten („was ist passiert?“, und „waren sie dabei, als es geschah?“, und „wie fühlen Sie sich?“) und der Polizist sie in einem scharfen Tonfall abwies. Marcus hat ihre Visagen schon verdrängt. Sie sehen eh alle gleich aus in ihrem Streben nach einer Geschichte. Ob Mann, ob Frau, ihre Gesichter sind gezeichnet vom moralischen Verfall, der notwendig ist, um diese Arbeit überhaupt auszuführen ('Arbeit', denkt Marcus, nur weil sie Geld dafür kriegen, ist es noch keine Arbeit, Überlebende einer Katastrophe auszusaugen wie Vampire).
    Kurz darauf kamen die Notarzt- und die Leichenwagen. Der Polizist, dem Marcus zuerst auf dem Hamburger Berg begegnete, hatte sich vom 'Raschinskis' ein Bild gemacht, das er bestimmt so wenig wie Marcus je vergessen wird, und gleich darauf auch Leichenwagen her bestellt.
    Er hieß Markus, glaubt Marcus, aber mit Nachnamen und wahrscheinlich mit K.
    Marcus fragt sich, was diese Menschen empfinden, die nur darüber schreiben, anstatt es zu erleben. Was bedeuten die Worte „Bilanz des Schreckens“ für sie und für die, die es lesen? Schrecken, ja, es war schrecklich, was geschah, aber es ist nur ein Wort, verdammt, nicht das Gefühl, nicht das innerliche Zerreißen, wenn du die zerfetzte Leiche deiner besten Freundin entdeckst.
    Kein Wort, kein Satz, kein verdammter Roman dieser Welt könnte beschreiben, was Marcus gestern erlebte und wie er sich jetzt danach fühlt. Und er ist so vertieft in seine Gram, dass er zunächst gar nicht bemerkt, wie der Mann ihm gegenüber, der das Drecksblatt liest, seine Zeitung senkt und Marcus nun eingehend betrachtet, als würde er nicht glauben, wen er vor sich hat. Ein Wunder, ihn hier anzutreffen, in der S-Bahn S1, auf dem Weg von Hasselbrook zum Berliner Tor.
    Marcus hebt seinen Kopf, er starrte auf seine Hände, die sich wieder in den Stoff seiner Jeans verkrampften, und blickt dem Mann ins Gesicht. Kurzes, graues Haar, das sich ob des Alters schon lichtet, elegante, schmal umrandete Brille, ein gepflegter Schnauzer, auch grau meliert, und er ist in einem Anzug gekleidet, sodass seine Erscheinung der Intelligenz widerspricht, die man nicht besitzt, wenn man dieses Blatt liest. Der ältere Mann lächelt, fast väterlich besorgt und befremdlich anerkennend.
    „Was ist?“ knurrt Marcus nach einer Weile. Die nächste Station muss er aussteigen. Er kann es kaum erwarten. Wie im falschen Film, denkt er, keine Realität, nur vorgetäuscht, wie damals, als Veronika ihm weismachte, dass alle nicht wussten, dass sie tot sind. Was ist denn real, normal? Ich fühle nichts, vielleicht das, denkt er.
    Dann antwortet der Mann:
    „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so anstarre, aber ich möchte Ihnen nur sagen, dass ich es bewundere, was Sie getan haben. Sie haben meinen tiefen Respekt, so etwas hätten nicht viele getan.“
    Marcus grient, zieht seine Augenbraunen nach unten und lacht knurrend. Der ältere Mann erschrickt, ist irritiert, ob es nun richtig war, ihn anzusprechen. Dann blättert er in

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