Blanks Zufall: Roman
ein lebendiges Wesen zu bewegen. Warum ist nicht schon längst jemand gekommen?, denkt er, wo sind die Notärzte, die Polizei?
„Ich hole Hilfe“, sagt er so ruhig er kann.
Marcus geht an Frank vorbei, steigt über die Körper zum Ausgang, holt sein Mobiltelefon aus der Tasche und während er auf den Hamburger Berg hinaus tritt, hat er schon die Notruf-Nummer gewählt. Aber das Chaos war nicht nur im 'Raschinskis', bemerkt er dann. Als er die Straße hinauf und hinab blickt, sieht er mehrere Notarzt- und Polizei-Wagen und mehrere Ansammlungen von Menschen, vor dem 'KFC' an der Ecke zur Reeperbahn, vor dem 'Lunacy' schräg gegenüber, und vor dem 'Grünspan', in dem er vielleicht feiern wollte.
Ob Kopf, ob Zahl, das Chaos war für Marcus vorherbestimmt. Er sieht einen Polizisten die Straße hinunter gehen, in sein Funkgerät sprechend. Marcus winkt und der Polizist kommt.
„Ich glaube, wir haben hier noch einen Tatort“, teilt er seinem unsichtbaren Partner mit. „Ich brauche noch mehr Notarzt-Wagen und Verstärkung.“ Dann Pause. „Es ist das 'Raschinskis'“, sagt er und Marcus muss sich setzen, sitzt im Schneidersitz mitten auf der Straße, als der Polizist ihn endlich erreicht.
Kapitel 5
Usurpator
MARCUS GLAUBT ZU träumen. Die Menschen im Zugwaggon, in dem auch er sitzt, schauen so teilnahmslos und abwartend, als wäre nichts geschehen. Aber das ist es auch nicht, oder? Zumindest in ihren Leben. Sie wirken wie Marcus sie mit zwölf Jahren empfand, als er glaubte, er sei der Einzige, der wusste, dass sie alle gestorben waren. Und wieder: Er ist der Einzige unter ihnen, der mehr weiß als sie. Und dieses Mal bildet er sich das Wissen nicht ein.
Jetzt wünscht er sich, er wäre tot, wäre einer von den Opfern gewesen, die nicht überlebten, zerfetzt in ihrem eigenen Blut. Dann müsste er nicht so tun, als würde er leben, denn mehr ist es im Moment nicht, so betäubt fühlt er sich; fühlt er nichts.
Und trotzdem: All die Bilder von gestern Abend, gebrannt in sein Gehirn, ewig als Erinnerung dafür da, ihn zu verfolgen. Er will sie nicht sehen und doch hat Marcus, ganz gleich, wohin er schaut, Jennys verstümmelten Leichnam vor Augen, detaillierter als gestern Abend, als würde er nun erinnern, was er zuvor verdrängte. Und er befürchtet, er wird seine Freundin nie wieder anders erinnern können, nie mehr das Lachen hören. Auch wenn es nur in seinem Kopf erklänge, als Echo lebte sie dann weiter. Im Moment ist da nur ihre Leiche und die gibt keinen Laut von sich.
Marcus hat geschlafen, ja, auch wenn er dachte, er könnte es nicht. Er schlief nur wenige Stunden, verkrampft auf den harten Plastiksitzen im Krankenhaus, in das sie Frank brachten. Sie, die Sanitäter, die an diesem Abend unterbesetzt waren („auf so etwas ist Hamburg nicht vorbereitet“, hieß es). Aus ihren Gesprächen erfuhr er, dass der Amoklauf (so nannten sie es nun) im Laufhaus begann, einem mehrstöckigen Puff, sich dann über die Reeperbahn zog, hinein in den Hamburger Berg, hoch zum Grünspan. Der Irre war in mindestens sechs verschiedenen Lokalitäten und verletzte und tötete, bevor er ungefasst verschwand.
„Das war mehr als ein Amoklauf“, sagte der eine, „das war ein kleiner Terroranschlag“.
Nur dass niemand in die Luft gesprengt wurde; dass stattdessen der besagte Jemand sich die Mühe machte, jedes einzelne seiner Opfer persönlich zu attackieren, sie aufzuschlitzen (oder was auch immer). Die Sanitäter sprachen von zwanzig und mehr Toten, von vierzig und mehr Verletzten. Und all das soll ein einziger Mann, ein wahnsinniger Hühne in einem Fellkostüm getan haben.
Die Zeugenaussagen glichen sich darin. Ein riesiger Mann, ein auf zwei Beinen wandelndes, tollwütiges Tier. Es gab welche, die nannten ihn Bär, Werwolf oder einen schwarzen Yeti, aber welcher Polizist nahm diese Aussagen ernst?
Marcus wollte nicht glauben, dass dies das Werk eines einzelnen Menschen war. Wie er Jenny zurichtete, wie all die Menschen in ihren eigenen Blutlachen lagen, das war das Werk eines grausamen, mitleidlosen Monsters (oder eher das Werk von vielen Monstern). Und sein Schatten verfolgt Marcus nun überall hin, zum Beispiel jetzt, auf dem Weg zu seiner Mutter, um seinen Geburtstag zu feiern. Wo soll er sonst hin an diesem Tag? Er will nicht zu Hause bleiben, an die Wand starren und den Bildern in seinem Kopf ausgeliefert sein. Er will jemanden um sich haben, jemanden, der nicht weiß, was gestern geschah, der nicht
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