Blanks Zufall: Roman
seiner Zeitung, faltet sie zu einer bestimmten Seite um und zeigt sie Marcus.
„Hier“, sagt er, „das sind doch Sie, oder nicht?“
Der ältere Mann zeigt auf ein Bild von Marcus, das jemand gestern aufgenommen haben musste. Es zeigt ihn von der Seite vor dem 'Raschinskis'.
Marcus erinnert Blitzlichter, nicht viele, kurz nur erleuchteten sie den Hamburger Berg, er dachte, sie waren nur in seinem Kopf, und er erinnert, dem Polizisten, dem letzten, freien Polizisten, erzählt zu haben, was geschah, flüsternd und beinahe weinend, immer wieder Jenny erwähnend und ihren zerteilten Körper, immer wieder Frank erwähnend, der noch lebte, vielleicht nur, weil Marcus dem Irren die Flasche in die Seite stieß. Marcus erinnert, dass der Polizist ihn fragte, wo die Flasche denn lag, für Blutproben später, vielleicht könnten sie ihn damit finden, den Irren. Marcus erinnert, nicht allein mit dem Polizisten gewesen zu sein, irgendjemand, einige Jemande hielten sich auf dem Bürgersteig auf, beobachteten, machten weitere Fotos, ohne Blitzlicht. Alles ging so schnell und so quälend langsam zugleich, dass Marcus nicht bewusst da war, nicht psychisch anwesend, physisch vielleicht, ja, aber der Aufprall an der Wand hatte alles durcheinander gebracht. Marcus war nicht er selbst, ein armseliger Überlebender des Massakers, mehr nicht, eher noch weniger. Und nun sieht er sich selbst in dem Drecksblatt und sein Foto wird präsentiert zu einem Text, der folgende Überschrift trägt: Die Helden der Blutnacht. Ohne sie wären noch mehr gestorben. Neben und unter Marcus' Foto befinden sich noch drei weitere, alle zeigen Männer, die wie Marcus fehl am Platze wirken, nicht wirklich da, den Blick starr in einer anderen Dimension verhaftet, gezeichnet vom Chaos.
„Das gibt’s doch nicht“, sagt Marcus und reißt dem Mann die Zeitung aus der Hand.
„Hey“, erwidert dieser, versucht aber nicht, sich die Zeitung wieder zu holen. Und als Marcus aufsteht, um den Waggon zu verlassen, der Zug fuhr soeben in den Bahnhof Berliner Tor ein, ergänzt der ältere Mann: „Behalten Sie sie. Ich wollte Ihnen nur sagen, solche Leute wie Sie braucht dieses Land. Wirklich!“
Marcus taumelt aus der Bahn, die Zeitung in der Hand, geht zu den Sitzen auf dem Bahnsteig und stolpert beinahe über seinen eigenen Füße. Als er sitzt und der Schwindel verfliegt, beginnt er zu lesen, einen Artikel, der ihn genauso verfolgen wird wie die Geschehnisse gestern.
„Karl F., Wilhelm P., Marcus B. und Frank U. sind die Helden dieser Stadt“, heißt es, „jeder der vier hat mindestens ein Menschenleben gerettet, während der irre Terrorist auf dem Kiez das Massaker anrichtete. Wenn sie nicht gewesen wären, nicht ihren Mut bewiesen hätten, sich dem Irren entgegen zu stellen, dann wären Ute H., Gertrude F., Harald P., Frank S. und viele andere nicht mehr am Leben, auch wenn einige von ihnen noch im Krankenhaus mit dem Tod ringen. Die ganze Stadt sollte diesen vier Männern danken. Wir werden es in den nächsten Tagen mit einer Serie über ihre heldenhaften Taten tun. Lesen Sie morgen, wie Marcus B. den Irren mit einer abgebrochenen Flasche in die Flucht schlagen konnte.“
Marcus lässt die Zeitung zu Boden fallen. Er hält sich die flachen Hände vor sein Gesicht. Schluchzt. Weint. In diesem Moment weiß er, dass er gar nicht taub ist. Marcus fühlt zu viel, von allem.
NACHDEM DER POLIZIST seine Personalien aufgenommen hatte, durfte Marcus mit Frank im Krankenwagen fahren, in das Krankenhaus St. Georg, in dessen Notaufnahme schon einige „solcher Fälle“, wie sie es nannten, geliefert worden waren. So saß er hinten bei seinem Freund, der notdürftig an Hals und Brust verbunden war, bewusstlos auf einer Bahre lag, an einem Tropf hing, der sicherlich auch Schmerzmittel transportierte.
Die Sanitäter stellten Marcus eine Reihe von Fragen, ob Frank Diabetiker war und ob Frank andere Blutkrankheiten hatte, vielleicht drogensüchtig war, irgendeine spezielle Unverträglichkeit von Medikamenten besaß, und später fragten sie ihn, ob er es gesehen hätte, das behaarte Monster und Marcus sagte: „Ja, und ich habe es mit einer abgebrochenen Flasche angegriffen“, und sie lachten kurz. Verrückt klang es, ihr Lachen, und eingeschüchtert, dachte Marcus, als wäre ich der Verrückte und sie die Normalen, denn normal ist es zu fliehen und nicht anzugreifen, wenn so ein Monster erscheint. Normal ist es, ein Feigling zu sein.
Marcus sollte doch bitte,
Weitere Kostenlose Bücher