Blanks Zufall: Roman
hängen ihm ins Gesicht und er ist froh, dass es versteckt ist und keiner das Zucken seiner Mundwinkel sieht, und seine eigenen glasigen Augen. Er glaubt noch immer zu träumen, so rauscht es in seinen Ohren, so nebelig ist sein Blick, dass dies nicht real sein kann, sein fünfundzwanzigster Geburtstag.
„Willst du was trinken, mein Junge?“ fragt seine Großmutter endlich und ihre Stimme klingt wie immer, tief und rasselnd vom jahrzehntelangen Rauchen.
Marcus räuspert sich. Endlich eine Frage, die nichts mit gestern Nacht zu tun hat. So banal, dass es ihn beruhigt.
„Ein Kaffee wär' nicht schlecht“, sagt er, schaut aber niemanden an, sondern starrt auf seine hängende Jacke. Laura greift nach Marcus' rechter Hand und hält inne.
„Du blutest“, sagt sie und ergreift sie vorsichtig. „Komm mit ins Bad. Ich verarzte dich, ja?“ Dann wendet sie sich an die Erwachsenen im Flur: „Ihr könnt ja schonmal alles vorbereiten. Wir kommen gleich.“
Marcus lässt sich von seiner Stiefschwester durch den Flur ziehen, an den anderen vorbei, die steif da stehen, als warteten sie auf Erlaubnis sich bewegen zu dürfen. Laura zieht ihn bis ans Ende des Flurs. Als beide im Badezimmer sind, drückt sie die Tür zu und schiebt Marcus zum geschlossenen Toilettendeckel.
„Setz dich“, befiehlt die Zehnjährige und Marcus folgt ihren Worten sofort. Ihm ist es gleich, wer in dieser Wohnung das Kommando übernimmt, wenigstens braucht er sich keine eigenen Gedanken mehr machen, was er nun tun soll.
Laura öffnet den Medizinschrank und holt Pflaster, Verband und eine Schere hervor. Marcus beobachtet jede ihrer Bewegungen, als würde er sie gerade erst kennenlernen, als hätte er sie zuvor noch nie gesehen. Ein Phänomen, dass er der Zeit zuschreibt, die vergangen ist, seit er sie an Weihnachten das letzte Mal sah. Er sieht sie viel zu selten, wie auch Frank und Jenny, nur seinen Dealer sieht er regelmäßig, und Anna natürlich, bisher. Aber das wird sich jetzt ändern, denkt er, alles muss sich ändern.
Marcus ist nun fasziniert, dass ein zehnjähriges Mädchen ihn verarzten will. Wie lange kennt er Laura schon? Drei Jahre, glaubt er, vielleicht vier, bevor sie eingeschult wurde und er ihr öfters am Abend Geschichten zum Einschlafen erzählte, wenn er auf sie aufpasste, weil seine Mutter und Michael im Theater waren, im Kino oder bei Freunden. Marcus zauberte für Laura, häufiger als für Anna, weil ein kleines Kind sich auch für Tricks begeistern kann, die Ältere sofort durchschauen (wie den Trick mit der Asche in der Handfläche; Laura begriff erst nach dem sechsten Mal, dass Marcus die Asche schon vor dem eigentlichen Trick in ihre Hand gerieben hatte; es war der erste von vielen Tricks, die Marcus seiner Stiefschwester beibrachte und die sie, wie Marcus damals, dann in die Schule trug).
Marcus war immer derjenige, der die Führung übernahm, weil sie das Kind war und er wissen musste, was gut war am Abend und was schlecht (Zähneputzen, nicht zu lange Fernsehen, keine Süßigkeiten oder nur sehr wenig vor dem Zubettgehen). Und jetzt ist sie es, die ihn führt. Und ihre Zuneigung schnürt ihm den Hals zu, dass er wieder weinen möchte, oder gegen die Wand schlagen.
Laura dreht sich auf ihrem Absatz um und schaut zu Marcus, reicht ihm die Utensilien zum Halten. Dann greift sie an ihm vorbei, reißt einige Blätter Toilettenpapier ab und befeuchtet sie unter laufendem Wasser. Ihre Bewegungen sind im Fluss mit ihrer Haltung, mit ihrem Gestus, mit der Mimik, alles im Einklang. Ein lange einstudierter, aber über die Jahre ehrlich übernommener Wesenszug einer jungen Ballerina. Laura tanzt seit sie drei ist.
„Zeig mir deine Hand“, sagt sie und Marcus streckt seinen anderen Arm aus, die Knöchel der Hand nach oben. Zärtlich streichelt sie ihm über den Handrücken. Hautfetzen bedecken spärlich die blutenden Stellen, umrandet von roten und blauen Ergüssen.
„Das sieht böse aus, Blank, was hast du bloß gemacht?“ Und während sie fragt, reinigt sie seine aufgeschürften Wunden mit dem feuchten Toilettenpapier, tupft behutsam über die empfindlichen Stellen. Wieder dieses Brennen, das seinen Arm empor krabbelt.
Marcus möchte ihre Frage nicht beantworten. Vor ihr schämt er sich. Hätte Veronika diese Frage gestellt, in einer ihrer Therapie-Sitzungen, dann wäre es ganz einfach zu antworten. Ich schlage, weil ich es nicht fühlen will, denkt Marcus, ich tue mir selbst weh. Annas Gestalt taucht vor seinem
Weitere Kostenlose Bücher