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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vea Kaiser
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gegenübersaßen, schien die Luft geladen.
    »Herr Irrwein, bitte beruhigen Sie sich und bleiben Sie sachlich«, versuchte der Vorsitzende die Situation zu entschärfen.
    »Was heißt hier beruhigen? Luftinger hat keine Ahnung und stellt mich so hin, als wüsste ich nicht Bescheid, und das lass ich mir nicht gefallen!«
    »Herr Irrwein, das ist hier Ihre Maturaprüfung, etwas Respekt bitte!«, versuchte es der Vorsitzende abermals, doch Johannes war taub für die gut gemeinten Worte. Er wollte nur noch seinem Ärger Luft machen.
    »Ich weiß alles über Herodot, er weiß nichts. Das war im Unterricht auch schon so, aber Sie können es nachprüfen, in den Historien steht alles schwarz auf weiß.«
    Luftinger atmete nochmals durch und sagte:
    »Johannes, das ist falsch, können wir jetzt die Prüfung fortsetzen?«
    »Was heißt hier falsch? Nein, das ist richtig, und nein, ich will mich nicht so hinstellen lassen, als würde ich meinen Lieblingsautor nicht kennen. Ich hab die Historien zwanzig Mal gelesen und kann die Passage sogar auf Griechisch rezitieren. Und wenn Kopernikus nachgegeben hätte, als man ihm die Folter androhte, weil er nicht davon abwich, dass die Erde rund sei, dann wären wir jetzt noch im Mittelalter!«
    Die Schüler, die hinter Johannes an den Vorbereitungstischen saßen, kauten auf ihren Bleistiften und folgten dem Eklat mit neugierigen Blicken, ohne einen Gedanken an die noch bevorstehenden Prüfungen zu verschwenden. Niemand konnte glauben, dass ausgerechnet der Musterschüler Johannes in so eine Lage kommen könnte, aber allen war klar, mit so einem Auftritt war der Bogen schnell überspannt.
    Bis zur Notenverkündung zwei Stunden später rannte Johannes aufgebracht in der Schule herum, ging dreimal in die Bibliothek, schlug besagte Stelle in den Historien nach, konnte sich aber nicht beruhigen. Auch als die Schüler kurz vor drei Uhr nachmittags im ehemaligen Mönchsspeisesaal zusammengerufen wurden, war er noch außer sich. Es war keine Nervosität, er war sich sicher, alles richtig gemacht zu haben, es war vielmehr die blanke Wut, dass sich dieser Luftinger erlaubt hatte, ihn zu provozieren, und vor allem, Herodot zu beleidigen.
    »Johannes A. Irrwein«, las schließlich der Vorsitzende vor. Johannes versuchte sich zusammenzureißen. Gleich würde ihn der Vorsitzende in die freie Welt entlassen, auch wenn ihm Luftinger wahrscheinlich einen Zweier statt dem ihm zustehenden Sehr Gut eingetragen hatte.
    »Johannes A. Irrwein«, wiederholte der Vorsitzende und strich sich mit der freien Hand über seinen Bart. »Schriftlich kennen Sie Ihre Noten ja bereits: Mathematik: sehr gut, Deutsch: sehr gut, Englisch: sehr gut, Griechisch: sehr gut. Die mündlichen Prüfungsergebnisse nun lauten; Griechisch: sehr gut, Latein: sehr gut, Geschichte: Nicht genügend. Herr Irrwein, wir haben lange über Ihre Geschichtsprüfung diskutiert, daher hat sich die Notenverkündung verzögert. Die Kommission kam zu dem Entscheid, Ihnen die Matura nicht anzuerkennen. Die Matura bedeutet auch ein Reifeattest, das wir Ihnen nach Ihrem heutigen Auftritt nicht ausstellen können. Gerade in den Geisteswissenschaften muss darauf Wert gelegt werden, eine Quelle, insbesondere wenn sie so umstritten ist wie Herodot, stets zu überprüfen. Reife bedeutet Reflexion und den kritischen Umgang mit Wissen. Es tut uns leid, aber in Ihrem Fall mussten wir disziplinäre Umstände bei der Beurteilung der Prüfung miteinbeziehen. Wir möchten Ihnen jedoch aufgrund Ihrer ansonsten sehr guten Leistungen die Möglichkeit geben, im Herbst nochmals zur Prüfung zu erscheinen. Wir bitten Sie, Ihr Verhalten über die Sommerferien zu bedenken und uns im September zu zeigen, dass Sie auch anders können und reif für die Welt sind.«
    Johannes rammte sich seine Fingernägel in die Handflächen, bis er Blutstropfen aus den kleinen Halbmonden rinnen spürte. Erst als er schmerzhaft feststellte, dass er wach war, begann er sich zu fühlen, als fiele er in ein großes Loch. Kaum hatte der Vorsitzende den letzten Schüler verlesen, stürmte Johannes hinaus, lief den Gang entlang, schloss zittrig eine Tapetentür auf, lief durch den Geheimgang und stieß die Tür zu einem der hintersten Bibliothekszimmer auf. Er schloss die Tür hinter sich, ließ sich auf den staubigen Boden sinken, stemmte sich die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
    Er nahm gar nicht wahr, wie lange er so verharrte, und bemerkte nicht einmal, dass sich der Himmel verfinstert

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