Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Nacht.«
Der alte Herr Rettenstein klopfte ihm auf die Schulter, trat beiseite und fuhr mit den andern Männern ins Wirtshaus. Johannes blieb im Regen stehen und sah den Rücklichtern hinterher, bis sie in der Kurve zum Dorfplatz verschwunden waren.
An Ilse und Alois, die in der Küche mit einer Sektflasche auf dem Tisch auf ihn warteten, ging er wortlos vorbei. Er sperrte sich in seinem Zimmer ein und steckte sich die Gehörschutzstöpsel in seine Ohren, die er gekauft hatte, als die Nachbarn während seiner Lernzeit eine Grube ausgebaggert hatten. Ilse klopfte eine halbe Stunde lang an die Tür, fragte ihn, was passiert sei, doch er antwortete nicht. Erst Alois, der schließlich ins Wirtshaus ging, um den Sektgeschmack mit Bier hinunterzuspülen, erhielt dort von den alten Stammtischherren Gewissheit darüber, was es mit dem Verhalten seines Sohnes auf sich hatte.
Um kurz nach Mitternacht saß Johannes auf dem Boden des Balkons und beobachtete durch die Holzverstrebungen, wie in einem Haus nach dem anderen das Licht ausging. Er fühlte sich ratlos und war in allem, woran er glaubte, erschüttert. Nur für eine Sache hatte er Bestätigung: Dass es nicht egal war, woher man kam. Johannes lehnte den Kopf an das Geländer und beobachtete, wie eine Straßenlaterne nach der anderen erlosch. Das Dorf war so weit weg von der Zivilisation, dass es keine künstlichen Lichtquellen gab, die den Himmel trübten, weswegen nachts die Sterne allein genug Licht schenkten. Er wusste, das Dorf sah ihn als ein abtrünniges Schaf, dessen Flucht bekämpft werden und das schnellstmöglich wieder in die Herde eingegliedert werden musste. Johannes stellte sich vor, wie die Geschichte seines Versagens im Dorf die Runde machte und das ganze Wirtshaus über ihn lachte. Wie ein St. Petrianer nach dem anderen die Faust erhob, um ein Loblied auf die St.-Petri-Art zu leben anzustimmen; einen Beruf im Dorf zu erlernen, in der lokalen Mikrowirtschaft tätig zu sein, die Volksschulliebe zu heiraten, Kinder zu kriegen, sich im Dorfvereinsleben zu engagieren und zwischen den Kindergartenfreunden im heimischen Boden begraben zu werden. Und all diejenigen Menschen, die ihn so akzeptiert hatten, wie er war, hatte man ihm weggenommen: Doktor Opa, Pater Tobias, den Digamma-Klub. Er war ratlos, was er nun tun sollte. Nach dieser Katastrophe war er in St. Peter gefangen, und es schienen ihm alle Chancen verbaut, jemals als Geschichtsforscher zu reüssieren.
Neben seinem Schreibtisch lag die tote Maus auf einer alten Zeitung. Johannes betrachtete lange, wie friedlich sie aussah, staunte, dass ihrem Gesichtsausdruck nichts von dem Todeskampf mit Petzi anzumerken war, und flüsterte:
»Wie auch Solon wusste, das größte Glück, das dem Menschen zuteilwerden kann, ist der ewige Schlaf.«
Johannes hatte einmal gelesen, jeder Mensch neige zu einer bestimmten Art von Selbstmord – und er, da war er sich sicher, war der Typus des Hinabspringers. So könnte er wenigstens im Angesicht des Todes frei sein und losgelöst wie ein Vogel schweben. Johannes blickte über das Balkongeländer in den Vorgarten, wo Ilse ihre Beete hatte. Der Nussbaum, den Johannes Gerlitzens Großvater gepflanzt hatte, als er so alt gewesen war wie Johannes nun, streckte seine Äste über den Garten und raschelte im Wind. Ein Sprung aus dem ersten Stock, so überlegte Johannes, würde ihn wahrscheinlich kaum umbringen. Wenn er Glück hatte, würde er mit dem Kopf auf einem Stein aufschlagen oder an Verletzungen seiner Organe sterben. Sein Blick fiel auf die Rankstangen, an denen die Paradeiser emporwuchsen, die am Ende des Gartens neben dem Zaun Spalier standen. Er musste nur Anlauf nehmen, so rechnete er, sich ein Podest bereitstellen, um über das Balkongitter zu gelangen, und dann würde er bis zu den Rankstangen fliegen. Johannes stellte sich vor, welche Gesichter die St. Petrianer machen würden, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit seinen blutenden, von spitzen Eisenstangen durchbohrten Körper anträfen – das wäre ein gelungener Abschied.
Johannes trug den Schreibtischsessel als Sprungpodest auf den Balkon, öffnete den Kleiderkasten, ließ die Bügel über die Stange rutschen und entschied sich, in einer Cordhose mit nacktem Oberkörper zu sterben. Schließlich ging er zum Abstellbrett über seinem Schreibtisch und nahm den Fischbandwurm in beide Hände. Das Spiritusglas war kühl, der Wurm mit Stecknadeln an eingeschweißtem Papier befestigt, sodass er sich nicht
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