Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
lächelnde Fratze, das Entsetzen im Gesicht des Subpriors, den Unheil predigenden Jeremias, den liegen gebliebenen Bus und den selbstzufriedenen Gesichtsausdruck von Herrn Rettenstein, als er ihn aus dem Kofferraum entlassen hatte. Und plötzlich erinnerte er sich an Rettensteins Worte: Wir kämpfn hiazn seit hunderten Joahrn gegen de Hoch’gschissenen, und umso bessa, dass du uns zeigt hast, dass du kaner vo de Hoch’gschissenen bist. Oiso, guate Nacht. Dass er nicht früher über diese Worte nachgedacht hatte! Johannes’ Augen weiteten sich: Herodot hatte recht, er hatte seit heute den ersten Beweis dafür, dass das, was er schon sein Leben lang gewusst hatte, die Wahrheit war: In St. Peter am Anger war etwas faul.
»πᾶν ἐστι ἄνθρωπος συμφορή«, sangen die schönen neun Frauen ein Wort Herodots im Chor – In jeder Beziehung ist der Mensch dem Schicksal unterworfen, dachte Johannes und verstand, dies alles war Schicksal. Er war dazu auserkoren, in die Fußstapfen Herodots zu treten, indem er den Krieg, den die Bergbarbaren von St. Peter gegen die Zivilisierten führten, erforschte – und beendete!
Die schönste Frau, die nichts als einen Griffel und eine Wachstafel in der Hand hatte, marschierte auf ihn zu, sie war niemand Geringerer als Klio, die Muse der Geschichtsschreibung. Ihre Haut strahlte, leuchtete heller als der Mond, und noch bevor Johannes etwas sagen konnte, bog sie die weichen Knie, ließ sich rittlings auf Johannes nieder. Johannes spürte ihre Haarspitzen auf seinen Oberkörper rieseln, als sie sich zu ihm beugte, langsam ihre Lippen auf seinen ablegte. Wie tausend Bienen hatte er auf einmal ein Summen in seinem Mund, feine Stiche, eine liebende Nadel nach der anderen, er öffnete die Augen, und plötzlich war Klios Kopf ein Bienenstock. Johannes wollte schreien, doch die Bienen kletterten zwischen seinen Lippen hindurch, er verfiel in Panik, bis er merkte, dass sie ihn nicht zu Tode stachen, sondern schmeichelnd umsorgten und zärtlich Waben in seinem Mund zu bauen schienen, Waben in Form von Wörtern, die ausgewählter waren als alles, was er bisher gelesen hatte, und die nun ihm zu gehören schienen. Johannes verstand den Sinn der Dinge, sah den schönen Musen hinterher, die mit Herodot in den Himmel verschwanden, und verlor im hellsten Moment seines Lebens das Bewusstsein.
[Der kleine Mann mit dem großen Trieb, Notizbuch III]
[9.0.] Nach dem Wechsel des Jahrhunderts war der ganze Kontinent im Wandel, seit ein im Bezug auf seine Körpergröße überaus kleiner französischer Herrscher an die Macht gelangt war, der jedoch, wie es vielen kleinen, von der Natur wenig geliebten Männern zu eigen ist, ein übernatürliches und auch den Göttern unliebes Machtbedürfnis verspürte. Und während die Gebietsgrenzen und Allianzen zwischen dem nördlichen, dem atlantischen, dem mittleren und dem Euxenischen Pontus neu verschoben wurden, wurde der Alpenraum vom Kaiserreich im Osten abgetrennt und einem im Norden liegenden Herzogtum zugeteilt. [9.1.] Es dauerte vierzehn Jahreszeiten, bis die St. Petrianer davon erfuhren, daß sie nun nicht mehr dort dazugehörten, wo sie einst dazugehört hatten. Anfangs, so wird berichtet, sei es ihnen egal gewesen, da sie nicht belästigt worden seien. Ich habe allerdings herausgefunden, daß es schließlich ein Ereignis gab, welches die anderen Alpenbarbaren in den Krieg trieb; die Verletzung ihres Freibriefes, der zuvor den Barbaren aller Berge zugesichert hatte, niemals zum Kriegsdienst in anderen Gebieten als dem eigenen eingesetzt zu werden. Die Barbaren aller Stämme, mit Ausnahme der St. Petrianer, griffen daraufhin zu den Waffen und führten zahlreiche Kriege gegen die Besatzer. [9.2.] Bezüglich der St. Petrianer wird berichtet, daß sie so lange überlegten, ob es ihnen nützen würde, sich anzuschließen, daß, als sie bereit waren, eine Entscheidung zu treffen, der Aufstandsanführer namens Sandwirt bereits gefangengenommen und hingerichtet worden war, was das Ende aller aufständischen Tätigkeiten unter den Barbaren bedeutete. [9.3.] Wie nun die Geschichtsaufzeichnungen berichten, bereuten die St. Petrianer seinen Tod sehr und ehrten ihn, doch weitere Schritte unternahmen sie nicht, sondern warteten, bis sich die Lage im Rest des Landes beruhigt hatte. St. Peter am Anger war und ist auch heute, wie ich bezeugen kann, so weit weg vom Rest der Welt, daß die Bewohner, solange sie nicht die Berge in die
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