Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Himmel in die Hölle gefallen war.
»Lebst nu?«, fragte ihn Angelika Rossbrand schließlich. Johannes fuhr sich kurz über den Oberkörper und nickte, als er merkte, dass er von keinen Rankstangen durchbohrt worden war. Er wusste nicht ganz, wo er war, und er war noch weit davon entfernt, sich lebendig zu fühlen. Sein Gesundheitszustand war den Frauen jedoch egal. Hilde Wildstrubel beugte sich über ihn und hielt ihm ihren ausgestreckten Zeigefinger entgegen:
»Johannes, wir ham Grund zur Annahm, dass de Ilse exotischs Gemüse vor uns versteckt. Woaßt du wos?«
Johannes verstand nicht, was sie meinte, und starrte sie mit offenem Mund an.
»Lügen hülft net!«, legte Martha Kaunergrat nach und berührte mit ihrer Turnschuhspitze seinen Oberarm, als würde sie auf ihn draufsteigen, wenn er nicht antwortete. Johannes sah ihr Gesicht nicht, da Martha Kaunergrats Brüste so groß und prall waren, dass sie ihren Kopf verbargen. Johannes bekam Angst und schüttelte emsig den Kopf. Die Frauen sahen sich kurz an und beratschlagten. Schließlich zeigte Angelika Rossbrand mit ihrem Skistecken auf seine Brust:
»O. k., wir glaubn da, owa wehe, wir stelln fest, dass’d lügst! Du sagst uns g’fälligst, wenn da wos auffallt, verstanden?«
Johannes’ Mund war trocken und seine Stimme heiser; er nahm sich zusammen und krächzte, so laut er konnte: »Jawohl!«, woraufhin die Mütterrunde im Gänsemarsch abzog, die V-Formation wieder aufnahm und ins Café Moni zu den verdienten Eisbechern abzog.
Johannes richtete sich mühsam auf und blickte ihnen hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Nur das Klick-tack-klick-tack-klick hallte noch in seinen Ohren.
»Was war das bloß?«, fragte Johannes den Nussbaum, doch das Blattwerk leuchtete nur grün im Licht der Sonne und schien auch keine Antwort zu haben.
Johannes kannte die Frauen, die sich um ihn geschart hatten. Sie waren Freundinnen seiner Mutter, die oft im Irrwein’schen Wohnzimmer zu Kuchen und Kaffee zusammenkamen, aber er hatte sie noch nie Sport treiben sehen, vor allem nicht solch seltsamen Sport, der vielleicht gar kein Sport war, wie er überlegte. Und wieso hatten sie wissen wollen, ob Ilse exotisches Gemüse anbaute, und welch grausame Dinge würden sie wohl mit ihm anstellen, wenn er nicht mit ihnen kooperierte? Und plötzlich kehrte die Erinnerung an die Vision der letzten Nacht zu ihm zurück. Johannes fühlte sich auf einen Schlag wie Herodot, der ein fremdartiges, eigentümliches Barbarenvolk entdeckt hatte und es dringend erforschen musste.
Bis zu diesem Moment hatte Johannes sein Dorf für den langweiligsten Ort der Welt gehalten, an dem sich sogar die Kühe fadisierten, weil nie etwas passierte. Doch plötzlich hatte er das Gefühl, den Kühen wäre gar nicht langweilig, sondern er hätte bloß ihren Gesichtsausdruck falsch gedeutet. Johannes dachte daran, wie Herodot all jene Völker in ein neues Licht gerückt hatte, die man bis dato für bedeutungslos gehalten hatte. Von den Ägyptern hatte er berichtet, wie sie, vollkommen anders als die Griechen, ihr kleines Geschäft im Sitzen und ihr großes Geschäft im Stehen verrichteten. Bezüglich der Babylonier hatte er aufgedeckt, dass die Männer ihre Frauen einmal im Monat in den Tempel brachten, um sich dort wahllos mit allen zu prostituieren, und sogar über jenes nomadische Volk am Ende der Welt, die sogenannten Skythen, hatte er Bemerkenswertes herausgefunden, und zwar, dass diese ein Rohr aus Knochen in das Geschlechtsteil der Kuh steckten und hineinbliesen, während sie ihren Euter abmolken. Und plötzlich merkte Johannes, dass er all dies auch den St. Petrianern zutraute. Doktor Opa hatte einst ihre Körper erforscht, und Johannes merkte, dass er nun ihre Geister erforschen musste.
Nachdem er sich mit dem Gartenschlauch die Erde von der Haut gewaschen hatte, kramte er jenes original Moleskine-Notizbuch aus seinem Schreibtisch, das er sich für die Zeit nach der Matura geleistet hatte. Johannes küsste das Papier, schlug das Buch akkurat vor sich auf, sprach ein Dankesgebet an Herodot und die Musen und begann, einen Brief an den Digamma-Klub zu entwerfen, den er in der kommenden Woche in der Hauptstadt hätte treffen sollen. Es schien ihm unumgänglich, sie sofort wissen zu lassen, welch wissenschaftlicher Sensation er auf der Spur war, und obwohl es ihn in den Fingern juckte, nahm er sich die Zeit, die erste Fassung ins Notizbuch zu schreiben, bevor er die Reinschrift auf gutem
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