Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Briefpapier niederschrieb. Alles zuerst in ein Notizbuch zu schreiben, war nun mal eine Angewohnheit, die er von seinem Großvater übernommen hatte.
Liebe zivilisierte Freunde!, adressierte er den Digamma-Klub, und im Geiste auch Pater Tobias und Doktor Opa. Ihr werdet Euch wundern, wieso ich nicht zum vereinbarten Termin in der Hauptstadt erscheine. Erschrecket nicht, aber ich wurde nicht in die Welt entlassen. Ihr werdet nun denken, daß der üble Luftinger Rache an mir nahm, doch wisset, dem ist nicht so. Vielmehr glaube ich, daß das Schicksal Bedeutendes mit mir vorhat! Der größte Geschichtsschreiber aller Zeiten hat mich berufen, in seine Fußstapfen zu treten und die Barbaren der modernen Welt zu erforschen, die nämlich hier in St. Peter am Anger leben! Nie, meine Freunde, war mir dies bewußt. Ich hielt dieses Volk für der Wissenschaft unwürdig, dabei haben sie sich eine Parallelkultur erschaffen und kämpfen, wie ich entdeckt habe, mit all ihren Waffen dagegen, daß die Zivilisation ihr Dorf erreicht. Meine Freunde, ich habe endlich verstanden, daß ich mit Herodots Hingabe an die Erforschung der Bergbarbaren gehen muß, und nicht auf jene naturwissenschaftlich distanzierte Art, die ich bisher verfolgte. Ich muß aufhören, die Barbaren wie durch ein Mikroskop zu betrachten, während ich in meinem Zimmer zwischen Büchern sitze, nein, ich muß dieses Volk erforschen, indem ich mich wie Herodot unter sie begebe, mit ihnen lebe und verstehe, wieso sie so sind, wie sie sind. Es ist Zeit, jenen Laborkittel auszuziehen, den mir mein Großvater überstreifte. Ich muß einen Schritt weitergehen und meinen Beitrag zum Weltwissen unserer Zeit leisten, indem ich die letzten Bergbarbaren des Kontinents erforsche. Ich werde aufdecken, daß diese Bergbarbaren einen Krieg gegen die Zivilisierten führen, um ihre Eigenheiten zu beschützen, und auf diesem Wege werde ich meine Ehre wiederherstellen, die mir durch die Maturaprüfung zeitweise abhanden kam!
Gleich morgen bietet sich mir eine gute Gelegenheit zu beginnen, wenn zum Fronleichnamsfest das ganze Dorf zusammenkommt und folkloristische Traditionen performiert werden. Ich werde Euch von meinen Ergebnissen berichten. Euer Johannes, qui modo Herodoti, patris historiae, barbaros montes inhabitantes explorat, St. Peter am Anger, Non. Iun. an. p. Chr. n. MMX.
Am Fronleichnamsmorgen 2010 duftete der Balkon streng und pelzig nach Pelargonien, die ihre Köpfe aus den Blumenkisten auf die Straße reckten. Niemand fuhr die Dorfstraße entlang zur Arbeit, kein Traktorenrattern war zu hören, ruhig und doch geschäftig lag St. Peter auf dem Gipfel des Angerberges, im Windschatten des Großen Sporzer, weit weg vom Rest der Welt. Auf den Weiden in südlicher Hanglage mischten sich Kuhglocken zum Vogelgezwitscher, während Johannes einzelne Grüppchen von Menschen in Sonntagsanzügen und – kleidern beobachtete, die Richtung Dorfplatz wanderten. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren erfüllt von jener eigentümlichen Mischung aus Ruhe und Betriebsamkeit, die nur einem hohen Feiertag zu eigen war. Johannes hörte die Nachbarn ihre Kinder mahnen, bloß nicht vor dem Mittagessen die schönen Kleider dreckig zu machen, bis das Schreien seiner Mutter die Beobachtungen unterbrach:
»Johaaannes! Beeil di g’fälligst, wir sand spät dran!«
Alois wartete bereits auf der Holzbank vor dem Haus darauf, dass Ilse die Tür hinter Johannes abschloss und die Familie gemeinsam in die Kirche gehen konnte. Der Messdiener Egmont läutete am Dorfplatz seit zehn Minuten die Kirchenglocken, um im Namen des Vaters und vor allem des Pfarrers alle Schafe zusammenzurufen. Alois spuckte verärgert ins Gras:
»Der depperte Egmont kriagt irgendwann ane überzogn, wenn der si mit seine vül z’lauten Glockn immer so wichtig machn muaß.«
Ilse schüttelte mahnend den Kopf, Alois stand auf, zog sich den Hut tiefer in die Stirn und ging mürrisch los.
Ilse trug wie alle anderen St. Petrianerinnen an diesem Tag ihr Festtagsdirndl. Auch Johannes musste zugeben, dass die St. Petrianer Frauen in ihren Dirndln adretter aussahen als in den Jeans, Pullovern und T-Shirts, die sie wochentags aus Bequemlichkeit trugen. Bedingt durch die abgeschottete Berglage war der Wuchs der Frauen relativ gleich; breite Hüften, großer Busen, Tendenz zum Molligen – solcher Statur war die Trachtenmode nicht feindlich. Nur Angelika Rossbrand, die Dorffriseuse, fiel aus der
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