Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
ihren Gatschhupfern nach Hause bringen, die Mädchen ihr Zöpfe flechten. Und sie war eine Rettenstein. Es gab im Dorf keine zweite Familie, die so viel Wert auf Reputation und katholische Werte legte. Der Großvater war Obmann des Bauern- und Jägerbundes, der Vater besaß den größten Bauernhof des Dorfes, und alle Frauen beriefen sich in Zweifelsfällen auf Marianne Rettenstein, Marias Mutter und Vorsitzende der Mütterrunde. Johannes’ Mutter nahm Marianne als Referenzobjekt. Bei den Rettensteins gibt es einen zwei Meter hohen Christbaum!, hatte sie letzte Weihnachten angemerkt und Alois mit der 1,70-m-Fichte im Arm aus dem Haus geschickt, um eine größere zu holen. Und selbst der Pfarrer speiste zu Ostern am Tisch der Rettensteins.
»Darf ich dich was fragen?«, flüsterte Johannes vorsichtig.
»Da Pflicker Günther is da Vata«, antwortete Maria wie aus der Pistole geschossen.
»Woher wusstest du, dass ich das fragen wollte?«
»Geh bitte, weil des immer d’erste Frag is. Wia da Günther mi g’schwängert hat, woar ma schließli nu net zam.«
Johannes konnte nicht umhin, die Selbstironie in Marias Stimme zu hören, reichte ihr seinen Arm und führte sie zurück auf die Pensionistenbank. Maria lehnte den Kopf an und schloss die Augen. Die Frühlingssonne schien ihnen ins Gesicht, und Johannes nutzte die Gelegenheit, um noch einen Blick auf sie zu werfen. Sie hatte ein wirklich hübsches Gesicht, ganz anders als ihre drei Schwestern. Und dann erinnerte er sich an Günther Pflicker. Günther war älter als Johannes, hatte aber mit ihm die Volksschule abgeschlossen, weil er bereits in der Grundschule eine Klasse hatte wiederholen müssen. Bei Johannes’ erstem und letztem Fußballspiel hatte Günther gewütet wie ein Wilder, und Johannes vermutete, dass er eine wundersame Wandlung durchgemacht haben musste, wenn er ein Mädchen wie Maria Rettenstein abbekommen hatte. Johannes dachte zurück an ein Krippenspiel in der Volksschule. Maria hatte die Maria gespielt, der Nachwuchsfußballstar Peppi den Josef, er, Johannes, hatte ein Schaf spielen müssen. Und Günther Pflicker war der Hirte gewesen, dem es große Freude bereitet hatte, den Schafen mit seinem Stock versehentlich eine übers Haupt zu ziehen.
Nach einiger Zeit kündigte sich die Rückkehr der Prozession durch die vorauseilenden Trommelschläge an. Die Musik wurde lauter, und kurz darauf bog die Prozession um die Ecke, angeführt vom kreuztragenden Ministranten, dessen Gesicht rot wie eine Kirschtomate war.
»Maria, du hast übrigens zwei verschiedene Schuhe an«, flüsterte Johannes.
»Net scho wieder. Kannst ma nu amoi aufhelfn?«
Nun etwas erprobter fädelte Johannes seinen Arm unter den ihren, stützte ihr Kreuz und hievte sie aufrecht. Der Brokathimmel nahte heran. Der rechts vorne schreitende Himmelträger nahm Augenkontakt mit Johannes auf, und dieser sah: Günther Pflicker hatte sich kein bisschen verändert – hängende Unterlippe, klobige Boxerhände, Schultern wie ein Schrank. Einzig seine Haare zeigten Anzeichen von Pflege, so, als hätte heute Morgen jemand versucht, sie zu kämmen und einen Scheitel zu ziehen, von dem noch letzte Spuren übrig waren. Wie ein Orang-Utan an den eroberten Baum klammerte sich Günther an die Messingstange. Neben Günther trugen noch Anton Rettenstein junior, der Neffe des Bürgermeisters, sowie ein Hochschwab-Sohn das Dach über des Pfarrers Kopf. Günther Pflicker starrte ihn aus tief eingefallenen Augenhöhlen an, bleckte den Unterkiefer, dass Johannes schaurig zumute wurde. Er war froh, dass der Koloss an die Himmelstange gebunden war und es auch bleiben würde, bis Johannes weit weg wäre. Als Günther jedoch mit den Blicken nicht von ihm abließ und zu beben begann, sodass sich sogar der Himmel an der linken Vorderecke hob und senkte, bekam Johannes Angst. Doch nicht nur er bemerkte Günthers Eifersucht gegenüber jedem Mann, der Maria näher als einen Meter kam, sondern ebenso der junge Bastl Kaunergrat, der genau wie Wenzel zum Ministrieren zwangsverpflichtet worden war und sich als Weihwasserträger furchtbar langweilte. Bastl ging in die dritte Klasse Volksschule und hielt den Rekord im In-der-Ecke-Stehen. Er war mit dem Talent gesegnet, keine Gelegenheit für einen Streich zu verpassen, und so flüsterte er Günther zu, ohne dass es jemand anderes hörte:
»Oiso dann stimmt’s, dass de Maria auf so zaudürre, kaasweiße, hochg’schissene Habschis wia den Irrwein steht. Mei Bruada hat
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