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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vea Kaiser
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Messgewand und mit einer goldenen Stola um die Schultern, für deren Bestickung die Pfarrersköchin Grete sechs Jahre gebraucht hatte. Mit einem Tuch über den Fingern trug er die goldene, edelsteinbesetzte Monstranz. Vor, hinter und neben dem Pfarrer watschelte eine große Ministrantenabordnung – die Kinder wussten schließlich, dass sie bei Feiertagen drei Euro fünfzig statt zwei Euro Trinkgeld bekamen. Je nach Alter trug ein Ministrant den Weihrauchkessel, einer das Weihwasser, zwei die Glocken, vier die Windlichter und der älteste hatte eine ganz besondere Aufgabe: Er durfte den Verstärker für des Pfarrers Funkmikrofon tragen, auf dessen Lautstärke auch das Hörgerät abgestimmt war. In diesem Jahr war der älteste Ministrant keineswegs der größte. Wenzel Rossbrand, dem kleinen Bruder von Johannes’ Volksschulkollegen Robert, kam dieses Jahr die Verstärkerträgerehre zu. Wenzel war elf Jahre alt, nächstes Jahr wurde er bereits gefirmt, da in St.   Peter nur alle zwei Jahre Firmungen stattfanden, dennoch sah er aus wie acht, vielleicht neun. Da Großvater Rossbrand mit seinen Großväterfreunden einen Altmännerwettstreit austrug, welche Familie die frommste war, war Wenzel Rossbrand nicht wie die anderen Kinder seines Alters vom Ministrieren befreit, die meist nach der Volksschule aufhören durften, wenn ihnen die Kutten zu klein wurden. Wenzel war kürzerer Statur, seine Kutte schleifte am Boden, und schon nach vier Schritten sah es aus, als würde der Bub mit dem Topfhaarschnitt unter der Last des Lautsprecherverstärkers zusammenbrechen.
    »He, kannst ma aufhelfn?« Johannes drehte sich um und traute seinen Augen kaum, als er ein hochschwangeres Mädchen auf der Kirchenstiegenbank hinter sich sitzen sah. Sie war zu weit auf der Sitzfläche nach hinten gerutscht, und da ihre elfenhaft zarten Arme und zahnstocherdünnen Beine nicht sonderlich kräftig waren, kam sie von allein nicht mehr auf. Johannes nahm ihren ausgestreckten Arm in die rechte und stützte mit seiner linken ihren Rücken. Er musste sich mit dem Knie gegen die Bank stemmen, um sie hochzubekommen. Beim Blick auf den Boden merkte er, dass sie einen blau gepunkteten und einen weißen Schuh trug.
    »Dank da«, sagte sie und stützte sich stöhnend das Kreuz. Das Mädchen hatte einen schönen ovalförmigen Mund, eine Stupsnase und kleine Zähne, die genauso wie der Rest ihres Körpers, mit Ausnahme des Bauches, noch nicht ausgewachsen schienen – was die dünnen Zöpfe unterstrichen, zu denen sie ihr rehbraunes Haar gebunden hatte.
    »Du bist da Irrwein Johannes, gelt?«
    Johannes nickte und schämte sich zugleich, dass er keine Ahnung hatte, mit wem er es zu tun hatte – er hatte sich während seiner Schulzeit so wenig wie möglich mit dem Dorf beschäftigt, den Erzählungen seiner Mutter aus Desinteresse nicht zugehört und war insgesamt vielleicht drei Mal beim Greißler einkaufen gewesen, wenn Ilse krank gewesen war.
    »I hab di jo scho ewig nimmer im Dorf g’sehn«, sagte das Mädchen und streckte sich. Als sie ihren Kopf in den Nacken legte, erblickte Johannes drei schwarze Punkte auf ihrem Hals. Er kniff die Augen zusammen, drei Muttermale in Form eines gleichschenkeligen Dreiecks, und da erkannte er sie: Maria Rettenstein. Maria war zwei Jahre jünger als er, sein Kater Petzi hatte früher ihr gehört, und in seinen wissenschaftlichen Anfängen hatte er einst Marias Muttermale vermessen dürfen.
    Maria war es inzwischen gewohnt, angestarrt zu werden, und merkte an Johannes’ Blicken, dass er bis zu diesem Zeitpunkt als einziger Dorfbewohner noch nicht von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Sie erzählte ihm daher, dass sie zwar erst im fünften Monat, jedoch mit Zwillingen schwanger sei, und nun verstand Johannes, weshalb ein so zartes Mädchen wie sie einen derart großen Bauch haben konnte. Maria atmete schwer beim Sprechen, so als ob die Schwangerschaft ihre ganze Energie aufbrauchte. Wackelnd schob sie sich nach vorne und lehnte sich in den Schatten an die Verteidigungsmauer, die die Pfarrkirche umgab. Johannes folgte ihr und beschloss, mit ihr auf die Rückkehr der Prozession zu warten, die inzwischen fast vollständig um die Ecke des Gemeindeamts verschwunden war. Von Weitem sahen die Gläubigen aus wie lodengrüne Puzzleteile, die passend ineinandersteckten. Maria war, wie sich Johannes erinnerte, immer das beliebteste Mädchen gewesen, um das herum sich die Dorfjugend gruppiert hatte. Alle Burschen wollten sie auf

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