Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Hand zuerst auf Gretes Hals, dann auf ihre Stirn und hob sie schließlich auf seine Arme. Die Betenden staunten, welche Kraft der alte Herr Pfarrer unter seinem Messgewand verbarg. Zwischen den Fresken der Sakristei bettete der Pfarrer seine Köchin auf jene Holzbank, auf der er vor der Messe sein Vaterunser betete, nahm zwei Stapel Gebetbücher aus dem Schrank, schob diese unter ihre Beine, tauchte seinen Daumen in den Weihwassernachfülltank, malte ihr ein Kreuz auf den Kopf und ging zurück in den Altarraum, um die Messe an jener Stelle wieder aufzunehmen, an der er unterbrochen hatte.
»Lobpreiset den Herrn!«, schrie er laut, und nach der Replik: »Und in Ewigkeit, Amen«, wurde das Evangelium fortgesetzt.
»Frau Doktor! Frau Doktor! Die Grete hat’s zamdraht!«, schrie indessen der kleine Wenzel, sobald er ins Freie gekommen war und lange bevor er das Haus der Ärztin erreicht hatte. Es war kurz vor sieben, die Stille des Morgens lag wie eine Bettdecke über dem erwachenden St. Peter am Anger, und Wenzel Rossbrand, der trotz seiner geringen Körpergröße laut und unüberhörbar schreien konnte, sprengte die Ruhe mit seinem Rufen.
»Frau Doktor! Frau Doktor! Die Grete hat’s zamdraht!«
Dem Springbrunnen inmitten des Dorfplatzes stockte das Wasser, und der Schall der Hilferufe drang bis an die Waldzungen. Rehe, die in der Dämmerung ein paar Rosenknospen in den Vorgärten nahe des Waldes abknabberten, stellten ihre Ohren auf, die Kühe auf den Weiden erwachten aus dem stehenden Schlaf, und nach und nach klappten die Fensterläden der St. Petrianer auf.
»Frau Doktor, Frau Doktor! Die Grete hat’s zamdraht!«
Die Schreie des kleinen Rossbrandbuben drangen in die Häuser und erreichten die St. Petrianer an ihren Frühstückstischen. Alle sprangen sie auf, liefen mit Buttersemmeln und Kaffeehäferln aus ihren Häusern und versammelten sich auf der Kirchenstiege. Schon wenige Minuten nach Wenzels lautem Lauf durchs Dorf hatte sich eine Traube St. Petrianer in Morgenmänteln und Unterhemden auf der Kirchenstiege zusammengefunden und tuschelte eifrig, was denn passiert sei. Wenig später düste auch die von irgendjemandem vorsorglich gerufene Rettung die Hauptstraße mit Blaulicht hoch, und alle, die Wenzels Schreie nicht gehört hatten, liefen nun dem Alarmhorn hinterher. Als der Pfarrer, unbeirrt von der Tatsache, dass seine Köchin in der Sakristei von drei Zivildienern und einem Notarzt verkabelt und auf eine Trage gehievt wurde, den Schlusssegen sprach, war ganz St. Peter auf der Kirchenstiege versammelt.
»Aus der Bahn! Bitte Platz machen! Gehn Sie weg!«, mussten die Sanitäter rufen, als sie, vom Schlusslied der Orgel begleitet, Grete aus der Kirche trugen. Der Rettungswagen wartete mit der Abfahrt auf den Herrn Pfarrer, der insistierte mitzufahren, aber noch seine Albe ablegen musste.
»Schämts euch alle zam! Die Messe hat scho vor einer Stund ang’fangen!«, brüllte er beim Gang über die Kirchenstiege den umstehenden Gemeindemitgliedern zu und brauste schließlich mit Blaulicht davon. Anstatt wieder nach Hause zu gehen und das Tagwerk aufzunehmen, blieben die St. Petrianer auf der Kirchenstiege stehen und diskutierten – wie immer, wenn etwas passierte, das nicht jeden Tag passierte. Der Stolz ließ an diesem Morgen den kleinen Wenzel Rossbrand um zwei Zentimeter in die Höhe schnellen, denn alle tätschelten seinen Kopf, klopften ihm auf die Schulter, lobten ihn, so brav reagiert zu haben, und ließen sich berichten, was passiert war:
»Der Herr Pfarrer hat s’Evangelium g’lesen, dann hat’s an Rums g’macht und de Grete hat’s zamdraht.«
Wenzel wurde nicht müde, diese Geschichte jedem zu erzählen, der fragte, bis plötzlich Sandra Schafreuter in seinen Weg sprang.
»Servas Wenzel«, sagte sie, woraufhin Wenzel erschrak und zu Boden blickte. Auf der Bubentoilette ging das Gerücht um, wer mit Sandra Schafreuter eine Gänseblümchenkette bastelte, würde einen Kuss von ihr bekommen, sogar auf den Mund.
»Des is voi cool, dass du da dabei woarst«, sagte Sandra nach einiger Zeit des Anschweigens und lächelte Wenzel mit ihrem fehlenden Eckzahn an.
Wenzel grinste zurück: »Des woar voi laut, wia de Grete aufn Bodn g’fallen is.« Er war einen halben Kopf kleiner als die früh entwickelte Sandra. Sandra bohrte ihre Fußspitze in den Boden.
»Geh ma auf’d Wiesn? Gänseblümerl pflückn? Dann mach i da a Kettn, und du dazählst ma, wia des mit da Grete
Weitere Kostenlose Bücher