Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
sie tun dürfe und was nicht. Besonders geschmeichelt fühlte er sich, wenn er hörte, wie Ilse ihn verteidigte. Johannes kenne Alois gar nicht, er wisse gar nicht, was Alois für ein lieber Kerl sei, Alois habe im Gegensatz zu Johannes Humor und Weiteres – bis irgendetwas zu Bruch ging. Das Einzige, was Alois an Johannes Gerlitzen schätzte, war, dass dieser Ilse niemals eine Ohrfeige geben würde, wie es andere St. – Petri-Väter taten, wenn die Töchter ungehorsam waren.
Eine Tragödie ist es für pubertierende Kinder, wenn sich ihnen in jener ohnehin schon schwierigen Lebensphase ein Anlaß zur Gefühlsregung bietet, notierte Johannes Gerlitzen weiter. Ilse ist ein von Grund auf wütendes Mädchen. Ich vermute, diese Wut entstand bereits im frühkindlichen Alter – Wut auf den fehlenden Vater, einerseits aus Solidarität mit der Mutter, andererseits aus empfundener Zurückweisung der eigenen Person. Nun kommt die Wut über den Tod der Mutter hinzu, die sich in Ablehnung des Vaters als erziehende Figur äußert, und der unterschwellige Vorwurf an den Vater, am Tod der Mutter Schuld zu tragen. Ilse ist im Grunde ihres Herzens von derselben Anmut wie ihre Mutter, doch die Wut treibt sie in die Revolte, veranlaßt sie, sich mit all ihren Möglichkeiten gegen den Vater aufzulehnen. Und nur um den Vater zu ärgern, bandelt sie sogar mit dem Dorfrabauken Irrwein an!
Als wütete eine schlimme Epidemie, war das Haus von Doktor Johannes Gerlitzen im Sommer 1974 voller Menschen. Niemand war krank, noch wollte sich jemand behandeln lassen, und dennoch drängte halb St. Peter zu Ordinationszeiten zu den Gerlitzens. Der Doktor hatte nämlich von seinem letzten Ausflug in die Stadt einen Fernseher mitgebracht, der in der Stube im Obergeschoss seinen Platz bekommen hatte. Der Raum war ursprünglich als Kinderzimmer gedacht gewesen und als Aufenthaltsraum viel zu klein, vor allem, wenn sich mehr als zwei Dutzend Menschen dort auf den Zehen standen. Niemand beschwerte sich jedoch über den Platzmangel, vielmehr stützten sie sich aufeinander ab, die Kleineren drängten in die erste Reihe, einige standen auf dem Tisch und den Sesseln in der Ecke, um einen Blick auf den quadratischen Kasten zu erhaschen, der auf einer alten Kommode stand. Ilse war die Heldin des Tages, da sie als Einzige wusste, wie man das Gerät bediente.
»Spült’s da imma desselbe?«, fragte Anton Rettenstein, der seine Töchter zu Hause gelassen und nur seinen Sohn mitgenommen hatte. Erst wenn diese sondiert hatten, durften die Töchter wieder zu den Gerlitzens.
»Wia lang rennt’n des?« Der Automechaniker Patscherkofel hatte bereits die Stromversorgung und alle technischen Details des Fernsehers, die, ohne das Gehäuse aufzuschrauben, sichtbar waren, geprüft. Was die Wunderkiste zeigte, schien ihn nicht annähernd so zu interessieren wie deren Funktionsweise.
»Wos hat’n da Doktor für des Klump zahlt?«, fragte Frau Hochschwab, die Frau des Greißlers, und schluckte, nachdem sie errechnet hatte, wie viele Einkäufe diese Kiste wert war.
»I woaß net, wos des bringa soll. Da wird ma jo deppert, imma so ins Kastl schaun«, sagte der Altbürgermeister, der sich einen Sitzplatz in der ersten Reihe ergattert hatte, um seinen dicken Wanst auf die Oberschenkel zu betten.
»Des is jo ollas deppert«, meckerte Annemarie Rossbrand, die mit ihrem vierten Kind, einem Buben, schwanger war. In St. Peter pflegten die Frauen den Ehering an einer Schnur über den Bauch zu halten: Wenn er sich bewegte, bedeutete dies, das Kind war gesund. Pendelte er noch dazu von einer Seite auf die andere, glaubte man, es würde ein Mädl werden, drehte er sich wie bei Annemarie Rossbrand im Kreis, stickte man blaue Buchstaben in das Geburtspolster.
»Des is mir do wurscht, ob si de Ami mit denan Russn bekriagn, Hauptsach, uns geht’s guat.«
Dieser Zusammenfassung der St.-Petri-Philosophie stimmten alle zu. Dennoch wandte keiner seine Augen von dem schlecht übertragenen, von Schneestürmen durchzogenen Bild ab, bis Doktor Johannes Gerlitzen mit dem Stethoskop um den Hals die Tür zur Stube öffnete und den Nachrichtensprecher übertönte:
»Was ist denn hier los? Ich hab gedacht, ihr wolltets euch behandeln lassen, und jetzt sitz ich allein in der Ordination, oder wie?«
Betreten wanderten alle Augen zu Boden. Schließlich opferte sich Annemarie Rossbrand:
»Geh woart, Johannes, i wollt, dass’d da mein Bauch anschaust. Ob eh ollas mit’m Butzerl
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