Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
passt.«
Sie hatte Mühe, ihren hochschwangeren Körper an den vielen St. Petrianern vorbei aus dem Zimmer zu manövrieren, um Johannes in die Ordination zu folgen.
Der Fernseher vereinfachte Johannes’ und Ilses Beziehung merklich. Meistens waren die beiden nach der Abendjause in Streit geraten, wenn sie versuchten, Konversation über den Tag zu betreiben, doch nun setzten sie sich vor den Fernseher und verbrachten viele Abende ohne Streit. Während Johannes Bildungsfernsehen bevorzugte, liebte Ilse Programme wie Dick und Doof. Johannes fand diese Sendung unerträglich, Ilse hingegen konnte sich schieflachen über die beiden. Ein besonderer Streitfall war Hardys brennendes Hinterteil.
»So ein Blödsinn!«, rief Johannes.
»Uar supa!«, kierte Ilse unter wildem Glucksen und musste sich an der Tischplatte festhalten, um nicht vor Lachen vom Sessel zu fallen. Gemeinsam sahen sie täglich Zeit im Bild und im Anschluss den Abendfilm. Um halb zehn schickte Johannes Ilse ins Bett und widmete sich im Arbeitszimmer seinem Patientenjournal sowie kleineren administrativen Arbeiten. Meist war er zu Beginn von Zeit im Bild II mit dem Tagwerk fertig, sah sich die Abendnachrichten bei einem Glas Tee an, trank den letzten Schluck, während zu Programmende die Bundeshymne vor wehender Fahne gespielt wurde, und begab sich danach bis spätnachts in sein Labor zu seinen Studien über das Leben der entropen Parasiten des Menschen. Johannes Gerlitzen hatte mit den meisten Bauern Abkommen geschlossen, dass diese ihm die Gedärme ihrer toten Tiere zur Untersuchung überließen. Ebenso ließ er sich von den Jägern Füchse und andere Kleintiere bringen, selten streifte er selbst zu den Teichen im hinteren Sporzer Tal, um sich ein paar Fische für seine Forschung zu fangen, und besonders freute er sich über kontaminierte Stuhlproben, da diese unverletzte Larven und vollständige Bandwurmglieder beinhalten konnten. In der Nacht arbeitete er am liebsten. St. Peter war so still, als wäre er allein auf der Welt. Keine Autos waren zu hören, nur das Rauschen des Mitternfeldbaches drang bei offenem Fenster in sein Laboratorium. Das Rascheln des Waldes war bei Wind zu hören – je nachdem, wie kräftig eine Brise wehte, klang es, als würden die Bäume flüstern, manchmal sangen sie sogar, während Johannes Gerlitzen seinen Beitrag zum Weltwissen leistete. Vor allem aber konnte er hören, ob Alois nachts das Dorf unsicher machte und Steinchen gegen Ilses Fenster warf.
Die gemeinsame Lieblingssendung von Johannes und Ilse Gerlitzen war Vom Leben der wilden Tiere . Johannes konnte viel kommentieren, die Erzählungen des Moderators mit seinem eigenen Wissen aus der Welt anreichern; Ilse hasste Tiere im realen Leben, schließlich sah sie deren aufgeschlitzte Bäuche, wann immer sie das Labor betrat. Aber für exotische Tiere, die im Fernseher eingesperrt waren und nicht zerschnitten wurden, konnte sie sich begeistern.
Nachdem das neue Schuljahr begonnen hatte, sah Johannes die Serie oft allein an. Ilse hatte die Pflichtschule beendet und besuchte nun eine berufsbildende Schule im Tal, um nach dreijähriger allgemeiner Ausbildung eine Lehre als Kindergärtnerin zu machen. Große Streitereien hatte es aufgrund ihrer Schulwahl gegeben. Johannes hatte sie in eine Maturaschule schicken wollen, sodass ihr ein späteres Studium möglich gewesen wäre. Doch 1974 war die Gymnasiumslandschaft der Alpen in einer tristen Situation. Die paar Gymnasien, die sich in den umliegenden Tälern befanden, waren Klosterschulen, die von Mönchen betrieben und nur für Buben zugänglich waren – so auch das Gymnasium in Lenk im Tal, zu dessen Benediktinerkloster St. Peter am Anger einst gehört hatte. Und Ilse hatte sich mit Händen und Füßen geweigert, in ein Internat zu gehen, was Johannes’ größter Wunsch gewesen war, da sie so vor Alois in Sicherheit gewesen wäre. Johannes beobachtete die beiden nicht nur mit Argusaugen, er quetschte außerdem Informationen aus all ihren Freundinnen, die während einer schweren Grippeepidemie nach Schulanfang in die Ordination kamen. Beim Anblick der übergroßen Spritzen in seiner Hand und nach Erwähnung von wochenlang zu schluckendem, Brechreiz verursachendem Hustensaft wurden sie stets gesprächsbereit. Die Erzählungen von Ilses Freundinnen beruhigten Johannes Gerlitzen. Alois bemühe sich heftig um sie, aber Ilse halte ihn für einen Kindskopf – und sei am ältesten Rossbrandsohn Reinhard interessiert,
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