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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vea Kaiser
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seinem Kinderbett, sondern in Johannes Gerlitzens Schlafzimmer. Er lag im Bett, auf dem Rücken, die Augen offen, den Regenmantel angezogen. Ilse legte sich zu ihm, streichelte mit ihrer Hand seine eiskalte Wange. Johannes drehte sich um und zeigte ihr den Rücken, Ilse rückte ihm nach, drückte ihn fest an sich, doch er rührte sich nicht. Das Tageslicht erhellte das Zimmer. Wortlos lagen sie nebeneinander, Ilse schluchzte, Johannes atmete flach, bis der Tag heller war als die Schlafzimmerlampe, die die Nacht hindurch gebrannt hatte. Johannes stand auf. Ilse wartete noch einen Moment, um Kraft zu sammeln, bis sie ihm nachging. Johannes hatte sich den großen Reisekoffer seines Großvaters geholt. Er hatte den Zeitungssammler unter dem Schreibtisch hervorgeschoben, wickelte diverse Geräte aus dem Laboratorium in alte Zeitungen und legte sie in den Koffer.
    »Der Opa hat immer gesagt, ich bin sein Nachfolger. Er war der erste Doktor von St.   Peter am Anger, und ich werd der zweite. Ich erbe seine Sachen.«
    Ilse schnäuzte sich in die Falte ihres Pyjamas, alle ihre Taschentücher waren aufgebraucht.
    »Wenn du magst, kannst du mir helfen und die Bücher einpacken.«
    »Owa Johannes, wir ham net g’nug Platz für de ganzn Sachn vom Opa«, flüsterte Ilse vorsichtig.
    »In meinem Zimmer ist genug Platz.«
    Akribisch baute er das Mikroskop auseinander, und Ilse staunte über seine Fingerfertigkeit.
    »Wenn der Papa mag, kann er auch helfen. Dann sind wir schneller fertig.«
    Ilse zögerte.
    »Und Mama, der Schlappi muss übrigens von jetzt an bei uns wohnen. Er ist alleine und hat niemanden, der ihn versteht und der sich um ihn kümmert. Er braucht mich, ist das o.   k.?«, fragte Johannes mit der Abgeklärtheit eines Erwachsenen. Ilse stammelte.
    »Owa natürli, sicha kann er des.«
    Darauf eilte sie ins Bad, drehte das kalte Wasser auf und hielt ihren Kopf darunter, bis sie das Gefühl hatte, ihre Augen wären gefroren.

[Der Wallfahrts-Kampf, Notizbuch II]
    [4.4.] Obwohl die St.   Petrianer beschlossen hatten, den heiligen Koloman nicht mehr zu verehren, waren sie, wie ich in verschiedenen Dokumenten nachgelesen habe, durch ihre Zugehörigkeit zum Lenker Kloster verpflichtet, am Fronleichnamstag eine Wallfahrt dorthin abzuhalten. Ebenso ist dokumentiert, daß diese Verpflichtung ebenfalls für die anderen Barbarendörfer galt, die den Mönchen untertan waren – also auch für St.   Michael am Weiler, das dem Angerberg gegenüberlag. [4.5.] Im vierundvierzigsten Jahr dieser Tradition geschah es jedoch, daß die beiden Barbarenvölker durch unseligen Zufall zur selben Zeit bei der Zufahrtsstraße zum Kloster ankamen, die St.   Petrianer von Norden, die St.   Michaeler von Süden. Nun dauerte es freilich nicht lange, bis zwischen den prozessierenden Zügen ein Streit darüber entbrannte, wer zuerst den Hügel hinaufschreiten dürfte, auf welchem sich das Kloster erhob. [4.6.] Das Folgende sagen sowohl die Geschichtskundigen der St.   Michaeler wie der St.   Petrianer: Beide Züge drangen zur Einbiegung, und als die vorne gehenden, kreuztragenden Ministranten einander gegenüberstanden, schlug der eine dem anderen das Kreuz auf den Schädel. Daraufhin schritten die Fahnenträger ein, unterstützt von den Wimpelträgern, worauf die Musikanten ihre Instrumente als Waffen verwendeten, die Frauen einander mit Brotkörben prügelten, die Mädchen sich an den Zöpfen zogen, die Buben und Männer ihre Fäuste ballten, und nicht zuletzt nutzten beide Pfarrer die Monstranz, in der sie das Allerheiligste führten, als Schlaggeräte. [4.7.] Welches Dorf begonnen hat, läßt sich nicht sagen. Und natürlich geben die Geschichtsschreiber der einen jeweils den anderen die Schuld. Was ich nicht auflösen kann. Ich glaube jedoch, es ist egal, wer zuerst zugeschlagen hat. Denn hätte nicht der eine zugeschlagen, hätte es der andere getan, und hätte es der andere nicht getan, hätte es der eine getan, denn so ist es immer bei derart tief verwurzelten Feindschaften.

Die große Schlacht
          
    Als Ilse und Alois Irrwein mit der Traurigkeit ihres Sohnes nicht mehr umzugehen wussten, vertrauten sie auf den Sommer. Sie hofften, das schöne Wetter und die viele Freizeit könnten alles wiedergutmachen. Johannes glaubte nicht, dass es dieses Jahr einen Sommer geben würde. Wenn man trauerte, fragte er sich, musste dann nicht auch das Wetter trüb und regnerisch bleiben? Johannes wurde der Sonne böse, als sie Ende April die

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