Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Zähnen halten musste – aber plötzlich bewegte sich das Bild. Johannes schloss die Lider und öffnete sie wieder, der Traktor bewegte sich ganz ohne Geräusch. Er sah, wie sein Doktor Opa aufsprang, um sich blickte, er schaute genau in Johannes’ Richtung, hatte er ihn gesehen? Sein Opa durfte jetzt nicht stehen bleiben, ein gewaltiges Schlammbrett löste sich, und binnen eines Herzschlages erreichte die braune Welle den Traktor. Das metallene Ungetüm bewegte sich, als wäre es so leicht wie eine Feder, als hätte es Rollen. Es glitt geräuschlos den Hang hinab und riss Doktor Johannes Gerlitzen und Karl Ötsch mit sich. Johannes wollte schreien, aber seine Stimme war verschwunden, er machte den Mund auf, und nichts kam. Er stand da, während die Schlammlawine seinen Opa mitnahm, ohne dass sich einer der Männer bewegte, niemand half ihm, niemand lief dem Traktor hinterher oder versuchte, den Rutsch aufzuhalten. Vor den Augen des kleinen Johannes dauerte dieser Moment eine Ewigkeit, dabei ging alles ganz schnell. Johannes bekam Panik, er brachte immer noch keinen Ton heraus, sein Herz pochte, als würde es bersten. Er drückte das Patientenjournal eng an seine Brust und lief davon, lief, so schnell er konnte. Vielleicht war das ein Traum, es musste ein Traum sein, ein Hang konnte doch nicht seinen Doktor Opa verschlucken, das war unmöglich, er würde sicher gleich aufwachen, er musste nur die Augen zumachen – plötzlich stürzte er mitten auf der Kirchenstiege, schlug mit dem Gesicht auf den Stein, seine Brille ging kaputt, ein Milchzahn brach ab, er begann zu weinen, aber seine Sorge galt nur dem Patientenjournal. Es war heil, Johannes richtete sich auf, lief, so schnell er konnte ins Arzthaus, schaltete alle Lichter ein, rief nach Doktor Opa. Das musste ein anderer Mann gewesen sein, sein Doktor Opa war klug, er würde sich nie in Gefahr begeben, er würde sich nie von einer Schlammlawine erwischen lassen. Er hatte Johannes versprochen, ewig zu leben, und wenn nicht ewig, dann zumindest bis auch er einen echten Doktortitel hatte und nicht nur beim Spielen Doktor Enkel war, das hatte er versprochen. Schließlich lief Johannes in das Schlafzimmer seines Großvaters, warf sich aufs Bett, drückte seine Nase tief in die Polster und weinte, wie er noch nie in seinem Leben geweint hatte, weinte, bis er keine Luft mehr bekam, weinte, bis sein ganzer Körper so wehtat wie sein Herz.
Ilse Irrwein schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie wusste nicht mehr, was sie geträumt hatte, aber es musste furchtbar gewesen sein, denn das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie setzte sich im Bett auf und wartete, dass ihr Puls langsamer wurde, doch kaum hatte er sich ein bisschen beruhigt, hörte sie einen Knall und das Zerspringen von Glas. Ilse sah zu Alois, er schlief wie ein Stein, seltsamerweise ohne zu schnarchen. Ilse stieg aus dem Bett. Es war kalt, dennoch verzichtete sie darauf, ihren Morgenmantel oder Hausschlapfen anzuziehen. Sie wollte einfach nur wissen, woher das Geräusch kam. In völliger Dunkelheit ging sie nach unten. Ilse war in diesem Haus geboren, aufgewachsen und hatte einunddreißig ihrer vierzig Lebensjahre hier verbracht. Sie wusste blind, wo sie war und woher das Geräusch kam. Im Flur war ein Bild ihres Vaters von der Wand gefallen. Ilse sah zum Telefon. Sie überlegte, ob sie ihn anrufen sollte, ob sie fragen sollte, ob alles in Ordnung war. Es war halb eins, ihr Vater ging nie vor viertel zwei ins Bett, aber dann dachte sie, dass dies ein Zeichen der Schwäche wäre. Sie hatte ja angekündigt, heute nicht zur Verfügung zu stehen.
Am Nordhang hatte man Schaufeln und Hunde geholt und grub verzweifelt nach den beiden Verschütteten. Keiner der Männer ging, ehe der Tag anbrach. Man hatte sich geeinigt, Ilse Irrwein und Irmgard Ötsch erst Bescheid zu sagen, wenn man die Verschütteten geborgen hätte.
Ilse war sich sicher, wach gewesen zu sein, bevor es an ihrer Haustür geklopft hatte. Sie meinte, eine Vorahnung hätte sie bereits geweckt, bevor der Bürgermeister vor ihr stand, bis zu den Hüften voller Schlamm, im Gesicht eine tiefe Traurigkeit, inniges Bedauern und endlose Erschöpfung. Ilse ließ den Bürgermeister vor der Tür stehen, lief barfuß zu ihrem Auto, die Schlüssel steckten Tag und Nacht, und fuhr, so schnell sie konnte, zum Arzthaus. Als sie sah, dass außer im Kabinett überall Licht brannte, atmete sie auf und hoffte, Johannes hätte alles verschlafen. Ilse fand ihn jedoch nicht in
Weitere Kostenlose Bücher