Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
sagt.«
Johannes’ Augen weiteten sich panisch, als Alois ihn über die Outlinie schubste. Peter Parseier pfiff in seine Trillerpfeife.
»Renn zur Bank und hol da a gelbs Leiberl!«, schrie er lauter als notwendig.
Alois’ Hände verkrampften, auch wenn sein Sohn wie ein Reh im Fernlicht auf dem Fußballplatz stand, brauchte Parseier ihn nicht anzuschreien, doch dann besann er sich. Würde er Parseier angehen, würde der allen erzählen, Alois ließe seinen Sohn verweichlichen, und so stellte sich Alois breitbeinig an die Outlinie, zog den Gürtel hoch und wartete, bis Johannes mit hängendem Kopf davontrottete. Alois ging nicht nach Hause, sondern verfolgte das erste Fußballtraining seines Buben auf der Aussichtsterrasse vor dem Fußballhaus. Er trank vier Krügerl Bier in fünfzig Minuten, während er beobachtete, wie sein Sohn zehn Meter hinter Mitspielern und Ball lief. Peter Parseier hatte es natürlich besonders auf ihn abgesehen, pfiff ihn am häufigsten an, plärrte ihm Anweisungen hinterher, aber Johannes war von dem wilden Treiben rund um ihn so eingeschüchtert, dass er die blauen Blitze aus Parseiers Augen als das geringere Übel ansah. Das Trainingsleibchen roch seltsam, und ständig wurde er gestoßen und angerempelt, bis ihm seine Brille von der Nase rutschte. Nach dreißig Minuten schaffte Johannes es zwar, von allein in die richtige Richtung zu laufen, aber er bemühte sich eisern, dem Ball nicht zu nahe zu kommen. Sein Vater wartete bis zum bitteren Ende, genehmigte sich zum Schluss noch einen doppelten Schnaps und wankte beim Nachhausegehen wie eine angedribbelte Hindernisstange. Johannes merkte davon nichts. Nach seinem ersten Fußballtraining verspürte er Schmerzen in allen Muskelpartien. Er sehnte sich nach Doktor Opa und dachte, dass er ihn so gerne fragen würde, wie die einzelnen Muskeln hießen.
In diesen Tagen begann Johannes, das Patientenjournal seines Großvaters zu lesen. Es steckte immer noch im Plastiksackerl, mit dem Johannes versucht hatte, es in jener schrecklichen Nacht vor dem Regen zu schützen. Er fand in ihm sogar Bemerkungen zum Fußball. Eigentlich ist es ein Wahnsinn, daß es Kulturen gibt, die unter körperlicher Ertüchtigung verstehen, ihre Körper zu ruinieren. In anderen Teilen der Welt betreiben die Menschen Wirbelsäulengymnastik, Muskelaufbauübungen, fahren gemächlich Fahrrad oder schwimmen in für den Kreislauf optimal temperierten Schwimmbecken. In St. Peter am Anger hingegen richten sie sich mit Fußball zugrunde, einer Sportart, die aus vielen schnellen Bewegungswechseln besteht, die den Körper durch Unstetigkeit zerstören. Sie spielen bei jeder Witterung. Die Plätze, auf denen sie sich ertüchtigen, bergen durch unebene Böden, enge Spielfeldabgrenzungen und schlecht gewartete Rasen große Verletzungsgefahr. Diese Sportart fordert den Kontakt heraus, Zweikämpfe, Kopfballduelle, Eckbälle, alles ohne Protektoren. Die Verletzungsgefahr steigt zusätzlich durch eine übermäßige emotionale Hingabe, die jeglicher rationaler Grundlage entbehrt, jedoch automatisch einzusetzen scheint, sobald diese runde Kugel vor den Augen eines männlichen St. Petrianer Wesens auftaucht.
Alois erlaubte Johannes erst ab messbarem Fieber über 38,7°, das Fußballtraining auszulassen und nach Saisonbeginn ein Sonntagsspiel zu verpassen, stand außer Frage. Nicht dass Peter Parseier Johannes hätte spielen lassen. Parseier hätte zwar gerne das ganze Dorf mitansehen lassen, wie unbeholfen der kleine Irrwein versuchte, dem Ball nachzulaufen, aber einen Sieg wollte er dafür nicht gefährden. Und dass St. Peter Jugendmeister wurde, war Parseier wichtiger, als Alois Irrwein bloßzustellen.
»Ich mag nicht. Auf der Bank sitzen ist so langweilig«, schnaubte Johannes und trödelte seinen Eltern hinterher. Er schlenkerte mit den Armen und vollführte allerlei Pirouetten, um den kurzen Weg von der Südsiedlung bis auf den Fußballplatz möglichst in die Länge zu ziehen.
»Johannes, geh weita, oder i schleif di an de Ohrwaschln zum Platz«, sagte Alois zornig, während Ilse zwei Bleche Kuchen auf den Händen balancierte und einen Korb Schaumrollen für das Mütterrundenbuffet in der Ellenbogenbeuge hängen hatte. Sie hatte bereits um fünf Uhr früh zu backen begonnen. Heute spielte der FC St. Peter am Anger gegen den FC St. Michael am Weiler, die Erzrivalen vom gegenüberliegenden Berg im Angertal. Ein Match, das nicht nur von den Männern auf dem Platz,
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