Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
weswegen er drei Tage lang durchgeheult hatte. Doktor Opa hatte oft bekräftigt, wie wichtig es sei, immer zu hinterfragen und vor allem zu wissen, wieso ein Forscher etwas erforschte. Er selbst erforschte Würmer, weil er einen gehabt hatte und am eigenen Leib gespürt hatte, wie grausam das sein konnte. Herodot wiederum erforschte die fremden Völker, Barbaren wie er sie nannte, um den Krieg zwischen den Griechen und den Nicht-Griechen verständlich zu machen und vor allem die Vorgeschichten zu zeigen. Johannes blätterte durch das Buch, um die Stelle zu finden, bei der Doktor Opa und er vor mehr als einem Jahr zu lesen aufgehört hatten: Babylon.
»Na, hast du ein schönes Buch gefunden?«
Johannes schrak aus seiner Trance auf, das Buch fiel von seinen Knien zu Boden. Johannes’ Augen wanderten einen schwarzen, bodenlangen Habit hinauf, bis er dem Gesicht desjenigen begegnete, der ihn angesprochen hatte, freundlich und lächelnd. Nervös blickte sich Johannes in der plötzlichen Stille um. Die Jungscharkinder waren verschwunden, der Pfarrhofsaal war leer, die Gemälde an den Wänden betrachteten einander, und draußen stand die Sonne viel tiefer als bei der Ankunft in St. Peter.
»Du musst Johannes A. Irrwein sein, stimmt’s?«
Der Pater streckte die Hand aus, um ihm aus seiner Kauerstellung hinter dem Lesesessel aufzuhelfen. Johannes’ Knie zitterten, die Füße waren eingeschlafen, er musste sich am Fensterbrett festhalten, um sie auszuschütteln.
»Deine Mutter sucht dich überall. Sie hatte Angst, du wärest nach der Ankunft weggelaufen, weil sie dich nicht gefunden hat. Ich begleite dich nach Hause.«
Pater Tobias und Johannes A. Irrwein fanden auf dem Heimweg schnell ins Gespräch. Johannes war froh, einem lesenden Menschen erzählen zu können, wie sehr er im Jungscharlager gelitten hatte. Wie unangenehm es war, in Zelten zu schlafen. Wie sehr ihm davor gegraust hatte, mit Fingermalfarben Flaggen zu bemalen und sich das Gesicht zu beschmieren. Wie albern er es fand, Bäume zu zerhäckseln und daraus Pfeil und Bogen zu schnitzen, oder T-Shirts, Stirnbänder, Socken und Schweißbänder zu batiken – ganz zu schweigen davon, sich Freundschaftsbänder in die Haare zu flechten. Welch Bauchschmerzen er vom im Lagerfeuer gegrillten Steckerlbrot bekommen hatte und wie ihm der Kopf bei den Gemeinschaftsliedern geschmerzt hatte, wie: Tschu-Tschu, der Lagerboogie, ist unser Boogie-Woogie, tschu-tschu-tschu, die Zeit vergeht im Nu! Pater Tobias hörte ihm zu, nickte und meinte, den Knaben zu verstehen. Vor allem als Johannes davon erzählte, um wie viel schöner und sinnvoller er es fand, ein Buch zu lesen. Aus Johannes sprudelte Ärger und Wut über diese Woche heraus wie ein Wasserfall, Pater Tobias kam gar nicht dazu, etwas darauf zu erwidern, sondern staunte, dass solch ein kluges, wissenshungriges Kind inmitten von St. Peter am Anger lebte.
In der Einfahrt der Irrweins angekommen, wollte Pater Tobias schließlich umkehren, doch Johannes sah ihn hinter seinen verschmierten Brillengläsern neugierig an.
»Willst du noch den Schlappi kennenlernen? Mein Forschungsobjekt?«
Während Johannes loseilte, um Schlappi zu holen, stellte Pater Tobias enttäuscht fest, dass Ilse keineswegs jene intellektuelle Mutter war, die er bei solch einem scharfsinnigen Kind erwartet hatte. Er war überrascht, wie dialektal ihre Sprache war, obwohl sich der kleine Johannes in einer bezaubernd reinen Hochsprache artikulierte. Als ihnen der Gesprächsstoff ausging, waren sie froh, Johannes zurückkommen zu hören. Bis sie jedoch bemerkten, wie er aussah: Völlig verheult stand er im Türrahmen. Seine Haut war kreidebleich und von roten Schlieren überzogen. Seine Lippen waren blutig gebissen, und keuchend rang er nach Luft. Ilse erblasste. So schlimm hatte er noch nie ausgesehen. Noch bevor sie aufstehen, geschweige denn ihn fragen konnte, was denn geschehen sei, öffnete er schwer atmend den Mund.
»Mutter.«
Ilse erschauderte – auch wenn das Verhältnis zwischen ihnen nie das engste gewesen war, hatte er trotzdem stets Mama zu ihr gesagt.
»Das ist das letzte Mal, dass ich mit dir sprech, für den Rest meines Lebens. Eine Sache musst du mir sagen, dann red ich nie wieder mit dir.«
Johannes hielt kurz inne.
»Der Herr Pfarrer hat gesagt, Tiere haben keine Seele. Aber was passiert jetzt mit dem Schlappi, wenn er tot ist?«
Und plötzlich begriff Ilse Irrwein; sie hatte sein Kaninchen getötet. Sie hatte zwar
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