Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Papierhandtuchspender leer war. Er kramte in seiner Ledertasche nach Taschentüchern, hatte jedoch keine dabei und ekelte sich vor sich selbst, als er sich im Innenfutter seines Jacketts abtrocknen musste, um die Brille wieder aufzusetzen.
Die Pausenglocke läutete den Beginn der dritten Schulstunde ein, aber Johannes nahm nicht die Treppen in den zweiten Stock zum Geografieunterricht, sondern verließ das Gebäude und marschierte geradewegs durch die Innenhöfe, bis er im Torwartlhof ankam. Er schritt durch die Pforte, drehte sich um und starrte lange auf den Schriftzug Huc venite pueri, ut viri sitis . Johannes dachte daran zurück, wie er an seinem ersten Schultag hatte umkehren wollen, aus Angst, als Einziger kein Latein zu können. Dieser Gedanke hatte nun etwas Lächerliches, er war in Latein und Griechisch der beste Schüler der Klasse, doch er verspürte ein Gefühl, das dem seines ersten Schultages ähnlich war. Egal, wie viel er lernte, egal, wie sehr er sich bemühte, egal, wie angestrengt er übte, jedes Wort mit Bühnendeklamation der Hochsprache zu sprechen, keine Silbe zu verschlucken – nichts änderte den Umstand, dass er aus St. Peter am Anger kam, und das würde ihn immer von den anderen unterscheiden und immer jenen Nachteil ausmachen, vor dem er sich am ersten Schultag gefürchtet hatte. Johannes erinnerte sich, wie Albert zu ihm gesagt hatte:
»Es ist egal, woher du kommst. Es zählt nur, was du aus dir machst.«
Damals hatte das so wahr und einleuchtend geklungen, doch diese Worte schienen sich aufzulösen wie der Schnee, der weiß und schön eine Zeit lang alles bedeckt hatte, nun jedoch verschwand und den matschig-hässlichen Untergrund freigab, der stets darunter gelegen hatte. Johannes wandte sich um und blickte in Richtung der Berge. Die Gipfel waren kaum zu sehen, Hochnebel bedeckte das Angertal, nur einzelne Gletscherspitzen blitzten auf. Wenn er so nach oben sah, beschlich ihn Angst vor den steinigen Hängen. Obwohl er in einem der höchstgelegenen Bergdörfer der Alpenrepublik lebte, empfand er die Berge als Bedrohung, als Kerkerwände.
Kalter Wind kam auf, und Johannes spürte, dass sein Jackett noch nass war. Mit langsamen Schritten setzte er sich in Bewegung, streunte über den Almosengang, ein kleines Steintreppchen, das eine Abkürzung zwischen der Altstadt und dem Kloster bot, hinab nach Lenk. Als er nicht wusste, wo er hinsollte, da Pater Tobias in Rom war und ihn der Digamma-Klub verstoßen hatte, der Bus nach St. Peter aber erst in drei Stunden fuhr, spazierte er in eines der großmütterlich eingerichteten Altstadtkaffeehäuser, deren Fenster mit drei Schichten gehäkelter Spitze verhangen waren, nahm in der finstersten Ecke Platz und bestellte einen Eierlikör.
Mitzi Ammermann interessierte sich das erste Mal in ihrem Leben für Johannes A. Irrwein, als sie ihn zu einer Zeit, da er eigentlich in der Schule sitzen sollte, im Kaffeehaus Alkohol trinken sah. Sie war gerade in die Lektüre der bunten Seiten vertieft, aber der hochgewachsene, strohblonde Junge mit der runden Aluminiumbrille blieb ihr nicht lange verborgen. Mitzi Ammermann bedauerte zutiefst, dass ihr diese Information nicht viel nützen würde. Ihren Klatsch- und Tratschfreundinnen war ein Bursche aus St. Peter am Anger vollkommen egal, und sie überlegte, dass wohl der Einzige, der sich über die Information freuen würde, Luftinger wäre. Dieser hatte unlängst in einem Rundschreiben an das Personal verbreiten lassen, Informationen zu disziplinären Auffälligkeiten der Schüler würden sich positiv auf das Weihnachtsgeld auswirken, besonders wenn es sich um jenen Digamma-Klub handelte. Mitzi Ammermann beschloss jedoch, dass der Anblick des blonden Streberburschen, der allein in seiner Ecke saß und Eierlikör trank, eher traurig als disziplinär auffällig wirkte. Und so entschied sich die Konventsputzfrau, die eigentlich der Meinung war, keine guten Taten vollbringen zu müssen, da sie jeden Tag mindestens einen gekreuzigten Jesus und zwei Rosenkränze abstaubte, am heutigen Tag eine solche zu vollbringen. Sie ging also zum Subprior und erzählte ihm eine etwas dramatischere Version dessen, was sich an jenem Vormittag im Altstadtcafé zugetragen hatte. Am Abend staunte Mitzi Ammermann, wie gut es tat, durch Tratscherei jemandem zu helfen.
Offiziell wusste niemand, wer die Offensive gegen Luftinger gestartet hatte. Jede Woche folgten neue Flugblätter, die zum zivilen Ungehorsam aufriefen, dem
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