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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vea Kaiser
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Woche hatte der Postbus wegen der Schneeschmelze Verspätung gehabt. Die erste Stunde war Mathematikunterricht, Johannes jedoch bekam kein Wort von den Wurzeln und Quadraten mit, von denen sein Lehrer erzählte. Er schrieb abwesend von der Tafel ab und vergaß jede zweite Ziffer, denn auf der leeren Seite seines aufgeschlagenen A4-Heftes lag jenes Flugblatt, das bereits vor Öffnen der Schule an jedem Tisch, in jeder Toilette, in allen Gangkasterln, auf den Treppen, im Schulhof und sogar im Lehrerzimmer ausgelegt worden war. Luftinger hatte geschäumt und einen Putztrupp damit beauftragt, vor dem Eintreffen der Schüler jeden einzelnen Zettel zu vernichten. Weder der Hausmeister noch die beiden Putzfrauen noch die Buffetfrau und schon gar nicht Mitzi Ammermann, die in der Not zwangsverpflichtet worden waren, waren sonderlich motiviert oder flink ans Werk gegangen. Sie säuberten ein Viertel der unbenutzten Räume des Erdgeschosses, bevor die ersten Schüler eintrudelten und waren somit die Ersten, die sich am zivilen Ungehorsam beteiligten.
    Johannes meinte, in dem Text Alberts Duktus erkennen zu können, Severins Impulsivität, Mauritz’ träumerisches Sehnen, Ferdinands Energie und langsam verstand er, warum sie sich von ihm abgewandt hatten. Der Digamma-Klub plante einen Umsturzversuch. Oft hatten sie sich darüber unterhalten, wie es bei den Griechen die Pflicht eines jeden Intellektuellen gewesen war, sich gegen Tyrannen zu erheben. Er ahnte, dass sie ihn nicht in Gefahr bringen wollten, Umsturzversuche brachten oft Exil mit sich, doch für Johannes stand es außer Frage, seine Freunde zu unterstützen. Gleich in der Mittagspause huschte er durch die weitläufigen Gänge der Klosterschule – der Klubraum war jedoch leer. Die Tür stand offen, die Einrichtungsgegenstände des Digamma-Klubs waren verschwunden, und nur eine quaderförmige Stelle, an der der Fußboden heller war, deutete darauf hin, dass hier einst ein Bücherregal gestanden hatte. Ansonsten sah alles an dem Ort aus wie ein Abstellraum für nicht gebrauchte Konferenzstühle. Johannes verharrte regungslos im Türrahmen.
    Später lief er alle Klassenräume ab, in denen er den Digamma-Klub vermutete, doch es dauerte noch einen weiteren Tag, bis er Albert nach der zweiten Stunde in die Toiletten eilen sah. Johannes stürzte ihm hinterher und stellte ihn zur Rede, als er sich die Hände waschen wollte.
    »Bist du verrückt?«, herrschte Albert ihn an und drehte den Wasserhahn so hastig ab, dass das Quietschen der rostigen Armatur zwischen den weißen Fliesen widerhallte. Albert bückte sich, kontrollierte, ob Füße unter den Stalltüren zu sehen waren, und seufzte schließlich, als er merkte, dass er Johannes ohne Erklärung nicht loswürde.
    »Albert, ich wollte euch nur sagen, ich find die Flugblätter toll. Ich helf euch gern beim Verteilen, immerhin, Pater Tobias war mein Freund. Ich will was dafür tun, dass er wiederkommen kann.« Albert blickte kurz in den Spiegel und strich sich einige Haare aus der Stirn, die ihm beim Bücken verrutscht waren.
    »Johannes, hör auf. Du kannst nichts tun. Geh in Deckung und zieh den Kopf ein.«
    Johannes spürte Wut in sich aufkommen.
    »Johannes, sieh bitte ein, du hast nicht unsere Möglichkeiten. Wir können es uns leisten, uns in Gefahr zu bringen. Wir sind in der achten Klasse, haben gute Noten, und unsere Eltern sind informiert. Du weißt, Severins Mutter ist Beisitzende im Elternverein. Uns kann nicht viel passieren, aber Johannes, du kommst aus St.   Peter am Anger. Seit Pater Tobias weg ist, hast du niemanden mehr, der dich verteidigen kann, wenn du in Schwierigkeiten kommst. Oder haben deine Eltern eine Expressmitgliedschaft im Elternbeirat beantragt? Außerdem, du bist Stipendiat. Willst du riskieren, dass man dir dein Stipendium wegnimmt? Und wenn du von der Schule fliegst, wo willst du dann Matura machen? Johannes, wir haben das im Vorfeld lange besprochen und uns entschieden, dass wir es nicht verantworten können, dich da hineinzuziehen. Du bist einfach nicht so gut abgesichert wie wir. Daher geh in Deckung, bald wird alles vorbei sein.«
    Albert nickte zum Abschied und verschwand zwischen den Schülermassen, die sich vor der Toilettentür über die Gänge wälzten. Johannes drehte den Kaltwasserhahn auf, hielt seinen Kopf darunter und wartete, bis sich seine Wange wie eine Eisplatte anfühlte und die Zähne zu schmerzen begannen. Als er sich das Gesicht abtrocknen wollte, bemerkte er, dass der

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