Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I
wurde just dieser vierspurige Hauptverkehrsweg zweiminütlich von Straßenbahn und Bus befahren und immerhin in halber Breite regelrecht durchbrettert, und schon eine kurze Mutter-Außerkraftsetzung konnte, bei Gott: musste schlimmste Folgen zeitigen.
Der 9. Juli war ein heißer, in Duisburg also schwüler Freitag. Stumm trugen hustend graue Ruhrgebietler das leere Elend ihrer Welt spazieren, Bierbäuche in Rippenhemd und Trainingswear, Frauen trist und traurig wie die umgebenden Nachkriegsstraßenschluchten, graue Kinder ohne Lachen, ohne Leuchten, ein einziger geknickter, umgeknickter Haufen, skandalon und Ärgernis zugleich. Marios’s Eis Caffè lief über. An einem Fenstertisch saß feingemacht und aufgeräumt Herr Tötenses in schwarzem Anzug und Pomade, pfriemelte am güldnen Schlips und las ein letztes Mal im Haffmans-Büchlein Flirten kann jeder! Das A und O der »gepflegten« Anmache .
Dann polterten sie herein.
»Buäähhh!«
»Nee, Üschken, Appelschorle kriegste nich! Hier is dein Fläschken! Und die Jacke lässte an, kapiert! Verdammter Scheiß, getz hör ma mit dat Schreien auf! Bleib von die Blumen wech! Gutn Tach! Is hier noch frei oder wie oder wat?«
»Bitte, gern.« Tötenses flötete. »Ich habe Sie erwartet. Nun aber gleich in medias res : Welches Sternzeichen haben die Dame?«
»Widder, hahaha!«, schrie die Kohlenstaubige und gab der Tochter prophylaktisch eins aufs Maul. »Ich komm hier nämlich nie widder raus, du Wichser; Üschken, hiergeblieben!« Ein zweiter linker Haken.
»Buäähhh!«
»Ich mag Sie«, flüsterte Tötenses und beugte sich vor. »Und das soll keine billige Anmache sein. Grüner Tee gefällig? Seltsam … Sie erinnern mich an jemanden. Aus … dem Zauberberg ?« Verstohlen blickte Tötenses zur Straße. Zeitgleich kamen Bus und Bahn. Noch zwei Minuten … Er nahm das Buch und reckte sich:
»Ohne dich will ich nicht leben, / komm, lass uns den Weinkrug heben! / Ei, du schönste aller Frauen / magst mir heut’ mein Herze klauen. / Schönste aller Nofreteten, / dein Gemach will ich betreten. Doch genug der Poesie. Darf ich fragen, wie Sie heißen? Darf ich in Ihr Öhrchen beißen?«
»Ober! Polizei!«
Siegessicher las er weiter: »Schöne Fee, o efeuranke! / Darf ich mit dir schlafen? Danke. / Ei, wir gehen ins Gebüschken, / und dann zeigst du mir dein Müsch … – apropos: Wo steckt eigentlich Üschken? Sie wird doch nicht … hihi … Pardon, auf die Straße …?«
»Ja – heilige Scheiße! Üschken!«
»Darf ich mich vorstellen, Eddy …«
»Himmels willen, wo is dat Kind?! Üschken!«
Sie lugte aus dem Fenster. Zwanzig Meter war der Bus entfernt. Beide rannten simultan zur Tür.
»Üschken!«
Ampeln wurden rot. Bremsen quietschten. Schreiend flog die Mutter auf die Straße, umrundete den Bus, still saugte Tötenses an einer Halfzware, ging zurück zum Tisch und grinste grimmig.
Es war, o Gott, gelungen, war vollbracht.
Laut tauchte freilich Üschken auf in der Cafétoilettentür und quietschfidel. »Buäähhh! Mama! Apfelschorle!«
Da, endlich, floss es nass heraus aus ihm. Lief kurvig über seine Wange und versank im Bier: ein altes Tränchen halb aus Schmerz und Glück. Sie lebt, erkannte Tötenses, sie lebt, wie schön, nichts wird sich je mehr ändern, umso besser.
Sein Handy piepste. Beim Hinausgehen stieß er mit der Angeflirteten zusammen.
»Bis morgen.«
Am selben Abend, längst war die Schwüle in die Wohnungen gekrochen, saß er mit Gattin Janette vorm Bettchen von Joy, Jangis, Jay, John und Janet. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten. Er tat alles, wie es die andern taten; es war aber eine entsetzliche Überforderung in ihm, er fühlte keinen Zorn mehr, keinerlei Vorsatz, und die sechs Namen konnte er auch nicht behalten.
So lebte er hin.
DIE LETZTE NACHT DES MARKUS SÖDER
Eine stille Utopie
Am 5. 1. 1967 wird er in Nürnberg geboren. Mit siebzehn tritt er der CSU und Jungen Union bei, deren Landesvorsitz er 1979 übernimmt. Zugunsten seines Jurastudiums wird er Mitglied der »Burschenschaft Teutonia Nürnberg im Schwarzburgbund«. Ab 1997 holt er als Kreisvorsitzender von Nürnberg-West glänzende Wahlergebnisse. Im Jahre 2002 ist er Chef der CSU -Medienkommission, Mitglied des Internet-Beirates, Kuratoriumsmitglied der Bayerischen Akademie für Fernsehen und macht mit einem coolen Fünfzehn-Tonner namens »Stoiber-Truck« Bundestagswahlkampf bei den deutschen Touristen der Adria-Küste. 2003 ernennt Edmund
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