Blau wie Schokolade
finden.
»Wir haben keine Klebepistole gefunden«, teilte der eine Beamte der Leitstelle mit. »Ich wiederhole: keine Klebepistole gefunden.«
Ich lachte so heftig, dass ich mir tatsächlich ein wenig in die Hose machte.
Und dann spürte ich es ganz kurz, das Leben.
Ich kehrte ins Leben zurück.
Als ich einige Abende später von der Arbeit nach Hause kam, brannte noch Licht bei Rosvita. Ich ging hinüber, weil ich noch eine Runde Karten spielen wollte. Die Musik war so laut, dass Rosvita mich nicht hörte. Ich schaute zu, wie sie in einem Rüschenkleid und weißen Handschuhen durchs Wohnzimmer tanzte. Sie war betrunken. Ich hatte Rosvita noch nie betrunken gesehen. Gott sei Dank war sie in dem Zustand friedlich. Ich ließ mich von ihr durch das Zimmer führen.
»Ich habe Burrrrrritos mit den Lopez gegessen. Da waren massenweise Knoblauch und Zwiebeln drin, und die töten Krebszellen ab.« Rosvita erstarrte und schaute nach oben, die Arme elegant gehoben. »Meine Tante Courtney hat mir das vor vielen Jahren gesagt. Tante C-C-Courtney hatte einen Holzzahn. Einen H-H-Holzzahn. Sie wurde einhundertsechs Jahre alt. Das ist s-s-superalt.«
Rosvita wirbelte mich durch das Zimmer, wollte unbedingt, dass ich mich nach hinten bog. Dann warf sie sich mit Schwung auf ihre gemütliche geblümte Couch. »Ich habe mich wie ein Kanarienvogel für Ro-Ro-Roberto gefreut. Mein Herz tanzt vor Freude, weil er jetzt nicht den Bakterien und Viren im Gefängnis ausgesetzt wird.« Ihr Kopf rollte nach hinten, die Augen fielen ihr zu. »Der arme, arme Junge. Das hat er wirklich nicht verdient. Stell dir vor, wenn er dafür bestraft worden wäre, die Welt von einem lebenden Jauchefass befreit zu haben.«
Ich erstarrte. »Was?« Mir wurde heiß und kalt. Ich schüttelte Rosvita. »Was redest du da?«
»Roberto«, lallte sie. »Der arme Ro-Ro-Roberto. Er hatte solche Angst, dass er ins Gefängnis müsste. Er ist noch so jung. Er sieht gut aus. Du lieber Gott, wenn das nicht funktioniert hätte, dann würde er in den … in den …« Ich schüttelte Rosvita erneut. »Dann würde er zurück nach Mexiko gehen. Ganz schnell. Wie eine Gazelle. Wie ein Gepard. Schnell zurück nach Mexiko. Alle, hat er gesagt, alle würden ganz schnell zurück nach Mexiko gehen.«
Du meine Güte! »Warum sollte Roberto Angst haben, ins Gefängnis zu müssen?« Na, natürlich weil er uns geholfen hatte, die Leiche vom Migrantenschreck loszuwerden. Doch es steckte mehr dahinter, das spürte ich. Das sagte mir das Klopfen in meinem Kopf. Ich rutschte neben Rosvita auf die Couch. Ich wusste, dass jetzt nichts Gutes kam.
Die Augen fielen ihr wieder zu.
»Wach auf, Rosvita! Nicht schlafen! Warum hatte Roberto Angst, dass er ins Gefängnis müsste?«
Sie rutschte herum, nahm meine Hand und tätschelte sie. »Er hatte Angst, dass er ins Gefängnis müsste, weil er Fakue erschossen hat. Peng, peng. Fakue tot. Toter Fakue, lalala.«
»Roberto hat … er hat Fakue erschossen? Roberto war das?« Ich hatte das Gefühl, als hätte ich einen Schlag versetzt bekommen.
»Fakue hat die süße Alessandra vergewaltigt. Ich hab die Kleine so gern. Die süße Alessandra. Sie ist das netteste Mädchen, das ich kenne.« Rosvita patschte auf mein Kinn, meine Nase, meine Stirn. »Außer dir, liebe Jeanne. Du bist auch nett.« Sie rülpste und schlug sich die weiß behandschuhte Hand auf den Mund. »Alessandra macht die leckersten Kuchen. Sie hat großes Talent.«
Ihr Kopf sackte nach hinten. »Lalala … lala.«
Ich ließ den Kopf auf die Knie sinken und atmete tief durch. Meine Kopfschmerzen wurden schlimmer, sie glichen einem sich nähernden Tornado. Ich hatte es so satt, immer über neue Geheimnisse zu stolpern. Als ich wieder Luft bekam, schüttelte ich die fast eingeschlafene Rosvita. »Ich dachte – hör mir zu, Rosvita! Nur noch ganz kurz! Du hast doch gesagt, du hättest ihn umgebracht.« Ich schluckte.
»Ich?« Sie hob den Kopf und lachte. »Das habe ich nie behauptet. Ich habe Fakue nicht umgebracht. Ich könnte keiner Fliege was zuleide tun. Das ist zu brutal. Ich verabscheue alle Formen von Gewalt. Außerdem: die ganzen Körperflüssigkeiten und das Blut! Fakues Leiche war eine Bedrohung für meine Sauberkeit und Hygiene. Ich habe immer nur gesagt, dass ich ihn umbringen würde. Ich habe es mir gerne ausgemalt. Aber nein, du Dummerchen, ich habe es doch nicht getan!« Sie schüttelte den Kopf und versuchte, mich fest anzusehen, doch ihre Pupillen
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