Blau wie Schokolade
die ganze Zeit zu denken, dass man sein Leben total verbockt hat. Als total verzweifelt zu sein. Verzweiflung ist düster. Wenn man nichts mehr fühlt, ist man tot. Wenn man wütend ist, kämpft man wenigstens noch. Ich behalte meine Wut.«
»Jeanne?«
»Auf gar keinen Fall werde ich meine Wut aufgeben. Ich mag sie«, hechelte ich, hievte meinen verschwitzten Körper langsam wieder hoch und drosch erneut auf den Sandsack ein. Ich hatte das Gefühl, als würde mir jeden Moment schlecht. »Ich gebe meine Wut erst auf, wenn die Eier vom Schlappschwanz gebraten sind. Schwarzgeschmort!«
»Ich bin gedemütigt! Gedemütigt! Von euch allen!« Emmalines Stimme hallte von den reinen weißen Wänden zurück wie querschlagende Patronen. »Schlagt zu! Zuschlagen! Los, weiter!! Zuschlagen!!!«
Als ich am Abend zu Rosvita zurückkehrte, hatte Roy eine Nachricht für mich hinterlassen. Es ging um Gerichtstermine, schriftliche Zeugenaussagen und ähnlich lustige Sachen. Ich rief zurück.
Roy beendete unser Gespräch mit den Worten: »Mir fehlt deine Mom unheimlich, Süße. Ich weiß, dass es dir genauso geht.« Dann lachte er. »Sie würde sich freuen, wenn sie wüsste, was ich mit Jared vorhabe. Ich glaube, sie hätte sich sogar einen Tag freigenommen, um am Prozess teilnehmen zu können, oder? Das wäre was gewesen, hm?«
Wenn meine Mutter nicht gerade mit einer Magen-Darm-Grippe über der Toilette hing, ging sie zur Arbeit. Ich verstand, was Roy mir damit sagen wollte.
Meine Mutter hatte den Schlappschwanz vom ersten Augenblick an gehasst und ihm keinen Nachtisch serviert, als wir einmal bei ihr zum Essen eingeladen waren. Das war ein deutliches Urteil. Wenn sie jemanden nicht mochte, bekam er keinen Nachtisch. Als dem Schlappschwanz kein Dessert angeboten wurde, verdrehte Roy die Augen. Meine Mutter funkelte den Schlappschwanz wütend an. Und ich schlug vor, nach Hause zu fahren.
Meine Mutter konnte schwierig sein, wenn der Jähzorn ihrer Mutter in den Genen durchschlug.
Wenn sie fand, dass ich sie nicht oft genug besuchte, schickte sie mir Kleidungsstücke, die sie bei der Gartenarbeit getragen hatte, und befahl mir, sie am nächsten Wochenende gewaschen zurückzubringen.
Außerdem schickte sie mir Kreuze. Kleine Kreuze, wenn sie fand, dass ich mich ziemlich gut schlug, große Kreuze, wenn ich es ihrer Meinung nach vergeigte. Nach dem Essen mit dem Schlappschwanz bekam ich ein sehr, sehr großes Paket geliefert. Meine Mutter hatte vom örtlichen Schreiner ein Kreuz von ein mal zwei Metern anfertigen lassen.
Wenn Charlie und ich als Kinder ungezogen waren, schlug sie in der Küche die Schränke zu. Wenn sie sich über mich ärgerte, weil ich mich in meiner Arbeit vergrub, mit dem falschen Mann ausging, zu viel trank oder ihrer Meinung nach zu dünn war, rief sie bei mir auf dem Anrufbeantworter an, und ich hörte lediglich zuknallende Schranktüren. Bum, bum, bum.
Aufgrund meiner Arbeit und der Geschäftsreisen sah ich sie manchmal wochenlang nicht, aber wir telefonierten fast jeden Tag miteinander. Wenn wir uns trafen, hatte sie den gemeinsamen Tag immer schon verplant: Ich musste an ihrer Schule mithelfen, wir gingen Antiquitäten kaufen, wir testeten ausländische Restaurants, besichtigten einen Park, kochten ihre mexikanischen Lieblingsrezepte, wir fuhren in eine andere Stadt, um einen anderen »Geschmack« des Lebens und »geschmackvolle« Menschen kennenzulernen. Außerdem meldete sie mich zu örtlichen Paintball-Wettbewerben an und ließ mich freiwillige Arbeit an ihrer Schule leisten.
Bei meinen Besuchen unterhielten wir uns auf Spanisch, damit sie besser auf mich einreden konnte, was ich in meinem Leben ändern sollte. Wie oben schon erwähnt: zu viel Arbeit, die falschen Männer, zu viel Alkohol, zu geringes Gewicht.
Und wenn ich das nächste Mal mit ihr sprach, bekam ich denselben Vortrag gehalten.
Strafpredigten waren ihr Hobby. Als engagierte Englischlehrerin liebte sie ihre Schüler und beantragte regelmäßig bei der Schulbehörde mehr Geld für Bücher, kulturelle Ausflüge, Autorenlesungen usw. Ihre Vorträge waren legendär. Meine Mutter war unheimlich beliebt, und sie trommelte ihre Unterstützer zusammen – Schüler, Eltern und andere Lehrer –, um ihre Forderungen durchzusetzen. Es ging so weit, dass die Schulbehörde sofort zustimmte, wenn meine Mutter einen Antrag stellte, damit die Beamten nicht all die nervigen Besprechungen, Briefkampagnen und Zeitungsbeiträge über sich ergehen
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