Blau wie Schokolade
es sei die Erschöpfung von einem harten Leben, von Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Aber ich brauchte nicht lange, um zu verstehen, dass hier mehr vor sich ging.
Ich führte die Familie durch mein Haus. Sie hatten im Immigrantenlager gerüchteweise gehört, dass ich Handwerker bräuchte.
Während des Rundgangs hatte immer jemand die Hand auf Alessandras Schulter, entweder Therese, Ricardo oder einer der Brüder. Das Mädchen sagte nichts und lehnte sich oft haltsuchend an Roberto. Ich meinte, eine Verfärbung auf ihrer Wange zu sehen, aber sie hielt den Kopf gesenkt, ließ sich das Haar ins Gesicht fallen, so dass ich nichts Genaues erkennen konnte. Vielleicht hatte sie ein Hautproblem oder ein angeborenes Feuermal. Ich wusste es nicht und wollte sie nicht anstarren.
Mir entging nicht, dass Therese in jedem Zimmer nach Luft schnappte, ebenso wenig ihr gemurmeltes »Muttergottes … oh, Muttergottes!«
Die Lopez waren froh, dass ich Spanisch sprach, und wir unterhielten uns über den Wasserschaden unter der Zimmerdecke, den verschlissenen Teppich und die völlig ruinierte Küche. Die beiden Badezimmer waren in einem unvorstellbaren Zustand.
Trotzdem nahm ich mein Haus am Fluss in Schutz.
Als wir sechs wieder unten waren, schauten Ricardo und Therese mich mit noch traurigeren Augen an. Therese war ungefähr in meinem Alter, hatte einen perfekten Teint und dickes schwarzes Haar.
»Señorita Stewart«, begann Therese. Sie rang die Hände. Ich merkte, dass sie von der sensiblen Sorte war. »Sie möchten, dass wir das alles renovieren?«
»Ich suche jemanden, der dieses Haus renoviert, ja.«
Ricardo nickte. »Aber, Señorita, so viel muss renoviert werden, so sehr, sehr viel.«
»Ja, ich weiß. Das Haus ist ein Rattenloch.«
»Sie glauben, hier sind Ratten?«, fragte Therese voller Angst.
»Oh, es sind bestimmt nur freundliche Ratten hier«, antwortete ich fröhlich. »Ameisen, Termiten, alle möglichen Insekten.«
Therese sorgte sich um mich und tätschelte mir den Arm. »Das tut mir leid, Señorita.«
Ricardo nickte erneut. »Wissen Sie, Señorita …«
»Ich heiße Jeanne.«
Ricardo nickte und schaute seine Kinder an. »Ihr werdet sie Señorita Stewart nennen.«
Die Kinder nickten.
Die Familie war sehr geübt im Nicken.
»Wissen Sie, Señorita … Jeanne … Das Haus ist« – er sah sich um, blickte mich an, seine Augen baten um Vergebung – »vielleicht sollte es besser abgerissen werden? Ich kann Ihnen gerne helfen, aber es wird … ähm … es wird sehr teuer werden: das Material, die neuen Teppiche, neue Küchenschränke, Farbe, die Decke reparieren – Sie wissen, dass das Wasser von einem Rohrbruch stammt, oder? Und die Toiletten … die sind eine Sache für sich, diese Toiletten –«
Therese verzog das Gesicht. »Die Toiletten sind alles andere als hygienisch …«
»Fast alles wird herausgerissen und von Grund auf neu gemacht werden müssen«, erklärte ich, immer noch fröhlich. Ich wusste genau, wie ich die Küche haben wollte: Landhausstil. Weiße Schränke mit Griffen in der Form von Kaffeebechern. Original Fliesenspiegel. Eine blaugestrichene Kochinsel mit einer Hackblock-Arbeitsfläche. Offene Regale. Große weiße Landhausspüle. »Und die Badezimmer sind so abartig, dass wir die Toiletten wahrscheinlich mit Dynamit raussprengen müssen …«
»Kein Dynamit!« Ricardo hob abwehrend die Hände, noch besorgter als zuvor. »Das ist nicht erlaubt. Wir dürfen nicht gegen das Gesetz verstoßen, alles muss nach Vorschrift gehen.«
»Das war ein Witz, Ricardo. Aber Sie sehen sehr besorgt aus, wenn ich das sagen darf.«
»Er macht sich Sorgen«, mischte sich Therese ein, »weil … weil … ich möchte nicht … Ihre Gefühle verletzen.« Sie rang die Hände. »Aber wissen Sie, Señorita, es wird sehr, sehr lange dauern. Dieses Haus wird nicht in einer Woche renoviert sein. Es wird sehr lange dauern. Viele Wochen. Monate. Wahrscheinlich Monate.« Sie sah ebenfalls so besorgt aus, dass sie mir leidtat.
»Ich weiß, es wird lange dauern.«
Die beiden tauschten einen erleichterten Blick aus.
»Es ist gut, dass Sie das wissen«, seufzte Ricardo. »Aber sagen Sie mir bitte, und nichts für ungut, aber warum reißen Sie das Haus nicht ab und fangen noch mal neu an?«
Ich dachte darüber nach. Schon oft hatte ich einen Bulldozer in Erwägung gezogen. Aber … nein. Das würde ich dem Haus nicht antun. Nicht meinem Haus. Ich konnte es mir nicht leisten, das Holz
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