Blau wie Schokolade
von der vor kurzem eingezogenen charmanten Drosselfamilie, von dem abgesackten Fußboden im Wohnzimmer und der eingestürzten Wand im Schlafzimmer. Dann sprachen wir über die Rehe, die ich gesehen hatte, über die Eulenfamilie und wie gerne ich Bücher las – welche Bücher er gerade lese? Filme gehörten auch zu meinen Hobbys – was seine Lieblingsfilme seien? Ich erzählte von Rosvita und ihrem Bazillenwahn, und er revanchierte sich mit lustigen Geschichten von der Wahlkampftour.
Dann fragte ich ihn, was er so in seiner Freizeit mache, und er sagte, sein Leben bestünde aus fast nichts anderem als Arbeit. Ich behauptete, immer nur Arbeit und kein Vergnügen würden auf Dauer schwul machen, und er lachte und meinte, das wäre wohl nicht möglich, da er eine ganz bestimmte nackte Frau nachts am Fluss kennengelernt hätte, und dabei hätte er sich alles andere als schwul gefühlt.
Wir unterhielten uns über alles Mögliche, zum Beispiel Landespolitik, Lieblingsschauspieler, die San-Juan-Inseln, Verwandte (ich erzählte ihm von meiner Mutter und dass sie mir immer Kreuze schickte). Der Gouverneur wiederholte, dass es ihm sehr leid tue mit meiner Mutter. Zu dem Zeitpunkt hatten wir drei Stunden miteinander geplaudert. Es war zwölf Uhr.
»Sie wollen jetzt bestimmt auflegen, oder?«, fragte er.
Ich beschloss, offen und ehrlich zu sein. »Warum haben Sie angerufen?«
»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie so weitermachen sollen.« Er hielt inne. Es war eine angenehme, lange, liebevolle Pause. »Machen Sie so weiter, Jeanne! Dieser Anruf ist übrigens rein beruflicher Natur.«
Ich lachte. »Selbstverständlich.«
»Bis morgen dann. Zehn Uhr.«
»Was?«, quietschte ich. Ich würde Jay sehen?
»Ja. Ich bin morgen um zehn zu einer Besprechung mit dem gesamten Team in der Zentrale in Portland.«
Ich dachte darüber nach. Am Tisch würde ein Mann mit strahlend blauen Augen, einem kantigen Kinn und einer tiefen, rauen Stimme sitzen, die mich erzittern ließ.
Ich dachte an meine kleinen Stegreifreden über Spermizide, Flatulenz, jammernde Männer, meckernde Frauen und dumme Menschen, die ich gehalten hatte, wenn ich meiner Meinung zu gewissen Strategien Ausdruck geben wollte. »Ich glaube, ich werde keine Luft bekommen.«
Er lachte. »Irgendwie glaube ich nicht, Ms Stewart, dass es bei Ihnen jemals so weit kommen wird. Niemals. Gute Nacht!«
»Ihnen auch gute Nacht!«
Mehrere Sekunden schwebte das Schweigen zwischen uns. Schwer und warm, als würde einem die Sonne aufs Herz scheinen.
»Schlafen Sie gut, Jeanne.«
Wieder erschien ein Bild von Jay in meinem Kopf. Er lag nackt in meinem blauen Himmelbett. Man merkte, dass ihm mein meergrünes Seidennachthemd gefiel. »Nacht, Jay.«
Ich legte auf und vollführte einen kleinen Tanz mit Schritten von Michael Jackson. Ich drückte einen Kuss auf die goldene Delphinkette neben meinem Bett. Dann tat ich das, was alle klugen Frauen tun, wenn sie bald einem Mann gegenübersitzen werden, der sie zum Kribbeln bringt.
Ich machte den Kleiderschrank auf. Du liebe Güte! Welche Schuhe sollte ich morgen bloß anziehen?
Auf dem Weg zur Arbeit am nächsten Morgen rief ich mir in Erinnerung, nach einem Handwerker für mein Haus Ausschau zu halten. Das Dach sah aus wie ein Diaphragma von King Kongs Affenfreundin, und die Treppe auf der hinteren Veranda wirkte allmählich, als wäre eine Rakete eingeschlagen.
»Ich möchte gerne allen für Ihre Hilfe und Ihren Einsatz in den vergangenen Monaten danken«, sagte Jay in der Wahlkampfzentrale.
Charlie, das Warzenschwein Damon, Riley, Camellia, Ramon und ich standen inmitten der älteren Freiwilligen und ungefähr achtzig Studenten, von denen viele einen Kater zu haben schienen, denn einer der reichen Jungs, die sich freiwillig gemeldet hatten, hatte am Vorabend eine große Party mit mehreren riesengroßen Fässern Bier in seinem Bungalow gegeben.
Jay war der geborene Redner. Er strahlte Selbstsicherheit aus, artikulierte deutlich und weich, wie Sirup auf Pfannkuchen, und gab jedem im Team das Gefühl, wichtig zu sein, denn das war der Zweck dieser Rede. Er dankte allen für das Plakatekleben im gesamten Bundesstaat, für die Arbeit in den Callcentern, wo die Wähler überzeugt wurden, ihre Stimme abzugeben, für die Beantwortung von Wählerfragen, die Organisation von Wohltätigkeitsveranstaltungen, die Teilnahme an endlosen Strategiebesprechungen, für den Mut, die eigene Meinung zu sagen, an den gemeinsamen Werten
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