Blau wie Schokolade
kleinen Hauses angeschossen kam, ging ich vom Gas. Der Fahrer hupte. Ich zeigte ihm einen Vogel. Er tat dasselbe. Ich ignorierte ihn.
Ich hasse Brücken. Warum arbeite ich bloß in einer Stadt mit so vielen Brücken? Brücken hier und dort, einfach überall. Und unter diesen Brücken war immens viel Wasser. Darin schwammen mit Sicherheit elektrische Zitteraale. Und Kraken so groß wie Menschen. Bah! Man sollte diesen Fluss mal so richtig saubermachen.
Am nächsten Abend stand ich mit Rosvita im Keller meines Gästehauses. Trotz der Dunkelheit war die Verzweiflung in Rosvitas Gesicht nicht zu übersehen.
»Wir müssen die Leiche jetzt endlich loswerden«, sagte sie, und ihre weißen Handschuhe leuchteten in der Düsternis. »Wenn jemand stirbt, setzt nämlich die Totenstarre ein, und die Leiche wird ganz hart. Der wird austrocknen wie eine Pflaume, und irgendwann fallen ihm Haare und Fingernägel aus. Der Gestank des verwesenden Fleisches kann Tote zum Leben erwecken, und dann wird der Staat auf ihn aufmerksam.«
»Schon gut, Rosvita, ich habe es verstanden«, sagte ich.
Sie schwieg und nestelte an den Jasminzweigen herum, die sie sich ins Haar gesteckt hatte. Auch mir hatte sie einen in die Bluse geschoben, um mich vom Geruch des verrottenden Migrantenschrecks abzulenken.
Ich schaute auf die Leiche und versuchte zu überlegen, wie wir sie loswerden konnten. Der Fluss hinter meinem Haus war nicht tief genug. Die kleinen Wellen mit ihren sahnigen Schaumkronen würden den Toten nicht verdecken. Hier konnte er auch nicht bleiben. Und zum Friedhof konnten wir mit ihm auch nicht gehen.
»Wir könnten ihn im Wald vergraben!«
Ich spähte aus dem dunklen Fenster und sah nur die Lichter von Rosvitas Haus. Draußen waren hohe Bäume, Berge und viel Platz. Irgendwo gab es doch bestimmt einen alten Holzfällerpfad, der uns tief in die Wildnis führen würde. Wir könnten die Leiche dahin bringen und ein schönes, tiefes, gemütliches Loch graben.
Rosvita nickte.
Ich nickte.
Klang ganz einfach.
Aber das Leben war voller Überraschungen.
Woher sollte ich wissen, dass man noch am Abend auf uns schießen würde?
Wir wickelten den Migrantenschreck in eine schwarze Plastikplane und befestigten sie mit Isolierband. Er war sehr schwer zu bewegen. Rosvita hatte zwar Handschuhe und Atemschutzmasken mitgebracht, aber ihn zu berühren war dennoch eklig. Sein Kopf, um den leider ich mich kümmern musste, war erstaunlich schwer. Selbst im Tod hatte er einen fiesen Gesichtsausdruck.
Als der Tote komplett eingewickelt war, ging es mir besser. Jetzt konnte er nicht mehr entkommen.
Wir versuchten, dieses Monster von Mann anzuheben.
Wir zerrten und schwitzten. Wir hievten und ächzten. Rosvita fluchte.
Auf der halben Treppe verlor Rosvita den Halt, und der Migrantenschreck rutschte mit lautem Gepolter nach unten.
In der Totenstille des Kellers erwogen wir unsere Möglichkeiten.
»Wir müssen ihn wie eine tote Kuh an einem Seil befestigen und die Treppe hochziehen«, sagte ich.
Meine Mitverschwörerin nickte. Wir fanden ein altes Seil, knoteten es dem Toten um die Knöchel und zogen daran. Das Seil riss.
Mit noch lauterem Gepolter stürzte der Migrantenschreck wieder die Treppe hinunter. Ich setzte mich auf die unterste Stufe und barg den Kopf in den Händen. Warum war ich nicht einfach weitergefahren zum Pazifik? Warum bloß nicht? Ich mochte doch den Strand, den Sand. Ich mochte Seehunde und Fische, Seetang und Algen, Toffee und Muschelsuppe.
Ich schaute Rosvita an. Sie war den Tränen nahe.
»Du hast ihn auf gar keinen Fall allein hier runterbekommen«, sagte ich. »Die Lopez haben dir geholfen.«
Sie wischte sich mit ihren behandschuhten Fingern über die Augen. »Das stimmt.«
»Wir müssen die Lopez holen«, sagte ich. »Wir bekommen ihn hier nicht allein heraus. Wir kriegen ihn ja kaum die Treppe hoch. Wenn sie dir geholfen haben, ihn runterzutragen, können sie ihn auch wieder mit hochtragen.«
»Nein!«, widersprach Rosvita. »Die haben ihre eigenen Sorgen. Das möchte ich ihnen ersparen. So was müssen sie nicht mitmachen. Ich möchte nicht riskieren, dass sie gefasst werden.«
»Aber bei mir kannst du das riskieren?«, fragte ich entgeistert.
Rosvita hatte genug Anstand, um in Tränen auszubrechen. »Natürlich will ich nicht, dass irgendjemand gefasst wird. Niemand. Aber die Lopez können nicht noch mehr Ärger gebrauchen. Alessandra kann gar nicht aufhören zu weinen, die Jungen sind so wütend,
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