Blau wie Schokolade
dass sie jeden Moment in die Luft gehen, und Ricardo zieht sich jeden Tag mehr in sich zurück. Als wäre er nicht mehr unter uns, Jeanne. So sehr erstickt ihn der Schmerz.«
»Wir brauchen Hilfe.«
»Aber nicht von denen.«
»Doch, von denen. Von wem denn sonst? Vielleicht von deinem besten Freund, dem Polizeichef? Oder von deiner Freundin Beatrice McConnelly, der Richterin aus Portland, mit der du dich so gut verstehst? Kommt die vielleicht zwischen zwei Verhandlungen für einen Nachmittag herüber? Letztens hast du auch von einem bekannten Bakteriologen gesprochen. Hat der vielleicht Zeit?«
Rosvita stotterte und räusperte sich. »Na gut. Aber Alessandra macht dabei nicht mit. Sie ist zu stark traumatisiert.«
Damit war ich natürlich einverstanden.
Blieben noch Ricardo, Roberto und Rudy.
Kugeln sausten uns um die Köpfe, schlugen in die Bäume ein, Borke spritzte in alle Richtungen. Hinterher dachte ich, dass die beeindruckend bösen Männer, die mit den Pistolen herumfuchtelten, uns wohl nicht erschießen wollten, aber in dem Moment selbst machten wir uns nicht die Mühe, sie nach ihren wahren Absichten zu befragen.
Ricardo, Roberto, Rudy, Rosvita und ich hatten den Migrantenschreck schnell die Treppe hinauf und hinten in meinen alten Bronco gehievt. Wir verließen Weltana in Richtung Mount Hood, dann bogen wir nach links ab auf eine alte Holzfällerstraße, die Rosvita kannte, weil sie mal mit einem Holzfäller zusammen gewesen war, mit dem sie öfter auf den Berg fuhr und die Aussicht genoss.
»Er musste immer ein Kondom tragen«, erklärte sie uns in meinem röhrenden Bronco. »Und vor dem Geschlechtsverkehr musste er mit mir duschen, damit ich wusste, dass er vollkommen sauber war. Er musste sich zweimal die Zähne putzen, Zahnseide benutzen und mit einer Bürste seine Zunge säubern, damit er so wenig Keime wie möglich im Mund hatte. Diese Vorkehrungen schienen ihn nicht zu stören …« Ihre Stimme verklang.
»Wir waren allerdings nur gut drei Monate zusammen. Er meinte hinterher, im Bett wäre ich eine verführerische Frau, aber ansonsten hätte ich einen Sauberkeitsfimmel.« Rosvita zuckte mit den Achseln. »Damit konnte ich leben. Ihn achtmal die Woche für den Sex sauber zu bekommen, fand ich auch irgendwann langweilig. Ich brauchte mal eine Pause.«
Achtmal die Woche? Ich starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. Hier saßen wir nun im Auto und transportierten einen Mann zu seinem Grab, der von Rosvita ins Jenseits befördert worden war, und sie schwelgte in Erinnerungen an ihren ehemaligen Liebhaber. Mit dem sie achtmal pro Woche geschlafen hatte.
Rosvita wies auf einen unbefestigten Weg, ich bog ab. Dann hielt ich an und machte die gesamte Beleuchtung aus. Eine Weile saßen wir schweigend da, still wie die Nacht, sozusagen.
Dann stiegen wir so leise aus, wie nur linkische, verängstigte Verbrecher es konnten. Ricardo, die Jungen und ich packten uns den Migrantenschreck und zogen ihn aus dem Wagen. Rosvita marschierte voran einen kleinen Abhang hinab. Es war stockduster. Wir wollten die Leiche so weit wie möglich tragen und dann ein Loch graben, so tief, dass es bis in die Hölle reichte.
Doch nach rund fünfunddreißig Metern wurde unsere kleine Prozession jäh unterbrochen.
»Runter von meinem Grundstück!«, schrie ein Mann. Er unterstrich seine Aufforderung durch eine Salve aus seiner Pistole. Die Kugeln zischten uns um die Köpfe.
Ich muss sagen, ich war versucht, die Leiche fallen zu lassen und abzuhauen. Rudy hatte den gleichen Gedanken, doch sein Vater rief ihn zurück.
Rosvita wimmerte: »Muttergottes, hilf mir, hilf mir, Muttergottes, hilf mir!«
Ich gab ein gurgelndes Geräusch von mir. Wir rasten zurück zum Bronco, den Migrantenschreck hinter uns herschleifend.
Eine andere tiefe Stimme rief: »Ich bring euch um! Ich bring euch um!«
Noch mehr Kugeln flogen uns um die Köpfe.
»Ich bin gleich da! Ich kriege euch!«
Stöhnend und ächzend kraxelten wir den Abhang hinauf.
»Wenn ihr noch einmal auf mein Land kommt, mache ich Hackfleisch aus euch! Verstanden? Hackfleisch!«
Und wieder zischten die Kugeln.
Ich möchte behaupten, dass es außerhalb von Kriegsgebieten bisher keine fünf Personen gegeben hat, die mit einem Toten im Schlepptau schneller rannten als wir.
Mit gesenkten Köpfen hasteten wir den Abhang hinauf. Wir warfen den Migrantenschreck wie einen Sack fauler Kartoffeln hinten in den Bronco und rasten so schnell wie möglich vor den
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