Blaubeeren und Vanilleeis
Donner über die Berge, ja, es war eine Gewitternacht, dass sich selbst alle Unholde, die im Mattiswald hausten, erschrocken in ihre Höhlen und Schlupfwinkel verkrochen …
Sie hatte erst ein paar Zeilen gelesen, als sie sah, dass Tumi schon eingeschlafen war. Sein helles Wuschelhaar hing ihm quer über Auge und Nase. Obwohl er ihr großer Bruder war, hatte sie immer das Gefühl, sie müsse auf ihn aufpassen und ihn irgendwie beschützen. Er sah richtig süß aus, wie er da lag, ab und zu ein bisschen schnarchte oder im Schlaf lächelte.
Ob er mich genauso lieb hat wie ich ihn?, überlegte Vildis. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht. Nicht bei Tumi. Nur bei Papa manchmal. Sie blickte einen Moment lang zum Mond: Er stritt sich mit einer dunkelgrauen Wolke, die ihm immer wieder die Sicht raubte. Dann ging sie leise hinüber in ihr Zimmer.
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Sesselja kommt und Vildis fällt ein Stein vom Herzen
Die Festtagsstimmung auf dem Wallhof hielt nach dem Geburtstag noch tagelang an. Mama war überglücklich und zufrieden, wie gut alles geklappt hatte.
Und wenn Mama so glücklich war, dann waren es auch die Kinder. So ist das einfach.
Eine ganze Reihe der Gäste rief noch einmal an, nur um Mama zu sagen, wie schön es gewesen sei, und die Kinderschar, die nach der Schule immer bei ihnen einfiel, durfte sich die Reste vom Fest schmecken lassen. Oma kam und half Mama beim Abwaschen und Aufräumen und sie belegte für die kleinen Besucher sogar noch einige Fladenbrote mit geräuchertem Lammfleisch.
Vildis hingegen sorgte sich schon wieder. Dass Mama kein einziges Geburtstagsgeschenk bekommen hatte, sondern bloß Geld für den Naturverein, gefiel ihr ganz und gar nicht. Und jetzt verschwendete Oma auch noch alles, was vom Essen übrig war, an diese immerhungrigen Freunde von Tumi.
»Sparen sieht anders aus«, sagte sie zu Oma und beobachtete mit Adleraugen, wie die Jungs die Leckerbissen in sich hineinstopften, als hätten sie noch nie im Leben etwas Essbares zwischen die Zähne bekommen.
Oma lachte. »Sieh mal, Vildis, Liebes, es ist einfach schön, zu geben, wenn man etwas zu geben hat«, sagte sie und legte ihren Arm um Vildis’ Schultern. »Die Jungs sind völlig ausgehungert, Liebchen.«
»Die sind immer hungrig«, murrte Vildis. »Und wir haben halt nicht so viel Geld. Müssen immer sparen und sparen. Und dann kommen die und essen und essen.«
»Freunde sind etwas sehr Wertvolles, Vildis«, sagte Oma, »und es ist gut, dass eure Freunde herkommen und bei euch sein möchten. Auch wenn dabei ein paar Scheiben Brot draufgehen. Man sieht, dass sie sich hier wohlfühlen, und das ist gut so.«
So hatte Vildis das noch nie gesehen, und sie musste zugeben, dass Oma recht haben könnte.
Und Vildis’ Sorgen sollten noch kleiner werden. Zumindest vorübergehend. Eines Tages kam nämlich Besuch auf den Wallhof: Sesselja war wieder da.
Sie war putzmunter und vergnügt und sagte, dass sie nie auf einer schöneren Feier gewesen sei.
»Ehrlich gesagt werden wir nicht oft eingeladen. Wir sind so alt und spröde«, meinte sie und lachte, dass ihre Wangen zitterten wie Ballons, aus denen die Luft herauszischte. »Ich fand es so gemütlich bei euch, dass es mir danach bei uns zu Hause überhaupt nicht mehr gefallen hat. Also habe ich angefangen, einige Dinge zu ändern, Kram weggeworfen, den ich nicht mehr ausstehen konnte. Und jetzt möchte ich bei eurer Mutter einkaufen und es uns daheim ein bisschen wohnlicher machen.«
Vildis strahlte.
»Mama hat gestern erst was aus dem Ofen geholt«, sagte sie. Vildis wusste immer genau, was Mama so machte. »Sie ist in der Werkstatt. Ich bringe dich hin.«
Sesselja war hingerissen, als sie in der Werkstatt all die schönen Dinge sah.
»Mit so etwas wollte ich auch immer mein Geld verdienen«, sagte sie. »Aber dann ist unsere Mutter gestorben und ich musste mich um den Haushalt kümmern. So war das halt. Und dann war irgendwann nur noch der Brosi da, unser Gudbrandur. Er hat sich nie um eine Frau bemüht und so bin ich auf ihm sitzen geblieben. Hübsch war er nie, der Gute, aber er ist ein feiner Kerl. Wir verstehen uns prächtig.«
Vildis hatte ein trauriges Gefühl im Bauch, als sie das hörte. Die arme Sesselja. Vildis versuchte sich vorzustellen, wie das wohl wäre: ein Leben lang auf Tumi und Vala sitzen zu bleiben, nie machen zu können, wonach ihr wäre … und zuletzt mit Tumi allein zu sein. Uralt und mit einer komischen Frisur. Vildis lief ein Schauer über
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