Blaue Wunder
anstellen, wenn es darum geht, sich mal ausgiebig zum Deppen zu machen. Da sind sie leider viel zurückhaltender als wir Frauen, die damit ja überhaupt kein Problem haben. Kein Wunder, dass Frauen immer viel mehr zu erzählen haben und im Gegensatz zu Männern über sich selbst lachen können. Sie machen ja auch andauernd lächerliche Sachen. Letztendlich hat Karsten wohl nur mitgemacht, weil er Erdal einen Gefallen tun wollte und das Gefühl hatte, mir nach dem Vorfall von neulich Nacht etwas schuldig zu sein.
Um acht Uhr zweiunddreißig endlich eine SMS: «Verdächtiger sitzt im Restaurant in männl. Begl. Melde mich, wenn er weiterzieht. Gruß Erdal. PS: Kenne hier den Koch.»
Erschöpft lasse ich mich auf den Klodeckel fallen. Bin am Ende meiner Kräfte. Seit heute Morgen habe ich so gut wie nichts gegessen, und in meinen Oberschenkeln tobt ein höllischer Muskelkater, wie ich ihn vor zwanzig Jahren nach meiner ersten Reitstunde hatte.
Damals hatte ich meinen letzten Versuch gestartet, ein richtiges Mädchen zu werden. Ich tapezierte mein Zimmer mit Pferdepostern und bekniete meine Eltern, mir eine Woche Reiterferien zu schenken. Bis heute bin ich der Meinung, dass ich ein besonders bösartiges Exemplar erwischte. Kaum saß ich auf dem Vieh drauf, rannte es auch schon los, gefolgt von allen anderen Gäulen meiner Gruppe. So lagen innerhalb weniger Sekunden zwölf plärrende Mädchen auf einer Fläche von etwa hundert Quadratmetern verstreut, die sich ihre erste Begegnung mit der angebeteten Rasse Pferd ganz anders vorgestellt hatten. Fünf von ihnen reisten am nächsten Tag ab. Eine noch am selben Tag. Das war ich.
Ich betaste vorsichtig meine Schenkel. Was für Schmerzen! Erdal hatte mit mir geschimpft, es sei ja auch völlig bescheuert, untrainiert mit einem Affenzahn loszujoggen. Er hatte sich angeboten, mich morgen mit in sein Fitnessstudio zu nehmen und mir das Prinzip des konzentrierten Fettabbaus mit Hilfe von Kraftmaschinen und Power- Energy-Kursen zu erläutern. Außerdem hatten wir uns in der Öffentlichen Bücherhalle mehrere wegweisende Werke über Fastenkuren ausgeliehen.
Heute ist unser Entlastungstag, und als ich mir vorhin gedünsteten Fisch mit Salat ohne Dressing bestellte, sagte der dämliche Bert: «Mir gefallen Frauen, die so diszipliniert sind, die auf ihre Figur achten und sich nicht gehen lassen. Na ja, zumindest nicht beim Essen, wenn Sie verstehen, was ich meine.» Um das blöde Sackgesicht bei Laune zu halten, senkte ich wieder vieldeutig die Augen.
Kreisch! Würg! Kreisch! Wenn ich eins hasse, dann Frauen, die sich nicht gehen lassen. Was ich aber noch mehr hasse, sind Männer, die Frauen gut finden, die sich nicht gehen lassen und auf ihre Figur achten. Es ist schlimm, auf seine Figur achten zu müssen. Bist du zu dick, musst du sehen, wie du dünner wirst, und bist du dünn, bist du ständig damit beschäftigt, es auch zu bleiben. Ein lebenslanges Mar- tyrium im Spannungsfeld zwischen Verzicht und Gewicht, zwischen Möhrenrohkost mit Zitronensaft und Buttercroissant mit Himbeer- marmelade, zwischen Sofa und Indoor-Cycling.
Dass ich mich derzeit nicht gehen lasse, liegt nur daran, dass ich fit und schön und idealgewichtig sein muss, um den mir bevorstehenden Kampf gewinnen zu können. Ich benötige jetzt dringend das Selbstbewusstsein, das einem eine gute Figur und ein ebenmäßiges Gesicht verleihen, um den Mann zurückzugewinnen, der mich dann später schwerpunktmäßig wegen meiner inneren Schönheit lieben soll.
Nun, vom Gewicht her gesehen habe ich mit einem Nettoverlust von 280 Gramm seit gestern noch keinen wirklichen Fortschritt erzielt. Mein Körper ist der einer sitzen gelassenen Frau über dreißig mit Hang zum Kummerspeck. Mein Gesicht jedoch, mein Gesicht erinnert an das einer Göttin!
Ich schaue mich im Spiegel des Waschraums an. Ich sehe gar nicht mehr so aus wie ich. Ich sehe aus wie eine Frau, die gerade auf dem Weg nach Mailand ist, um dort für einen vierteiligen Betrag ein Parfüm von Chanel vor der versammelten Weltpresse zu präsentieren.
Was ein gelernter Visagist innerhalb einer Stunde aus einer eher fahlen Epidermis, durchschnittlich kurzen Wimpern und störrischem Deckhaar zaubern kann, ist unglaublich. Als würde man einen Spitzenkoch zusammen mit drei mehlig kochenden Kartoffeln in die Küche einsperren, und er kommt nach einer Stunde mit einem exquisiten Dreigängemenü raus.
Mir ist natürlich auch klar, dass eine geschminkte Frau
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