Blaue Wunder
frisch. Meine Lippen: sinnlich, üppig, dank des Lippenkonturstifts, den Maurice großzügig über die bescheidenen Formen meines eigenen Mundes hinaus aufgetragen hat. Meine Haare: ultramodern mit vorwitzigen Fransen, die Maurice mit dem magischen Plätteisen in Form gebracht und mit Spray fixiert hat.
Ganz vorsichtig, um das Kunstwerk nicht zu zerstören, zupfe ich mir eine meiner geplätteten Strähnen in die Stirn. Der arme Bert wartet jetzt schon eine Ewigkeit auf meine Rückkehr von der Toilette. Aber eine Frau, die so aussieht wie ich heute Abend, kann natürlich jeden Mann warten lassen.
Meine Güte, wie viel leichter muss es sein, wenn man sein chaotisches, verletztes Innenleben unter so einer schönen Hülle verstecken kann? Ist es nicht viel angenehmer, unglücklich zu sein, wenn man dabei nicht auch noch schaurig aussieht? Wie ist das wohl, wenn der Blick in den Spiegel zu jeder Zeit eine Aufmunterung bedeutet? Wenn du eine Schönheit bist, auch ohne vorher eine Stunde beim Stylisten zu verbringen? Wenn dir bewundernde Blicke folgen, selbst wenn du morgens zerstrubbelt über die Straße huschst, um Brötchen zu holen?
Mich hat eine Szene immer ein winziges bisschen gestört in dem Film «Notting Hill», den ich zirka fünfzehnmal gesehen habe: Julia Roberts wacht neben Hugh Grant auf - was ja schon mal im Prinzip kein Grund ist, sich zu beklagen - und sagt: «Rita Hayworth meinte mal: Sie meinte damit, die Männer gehen mit ihrer Traumfrau ins Bett und sind erschrocken, wenn sie in der Realität aufwachen. Geht dir das auch so?» Und er sagt: «Ich finde, du hast niemals bezaubernder ausgesehen als heute Morgen.»
Das ist für uns normale Frauen natürlich eine Szene, die sich kaum nachvollziehen lässt. Julia Roberts ist, wenn sie morgens aufwacht, ja immer noch Julia Roberts. Oder sie sieht ihr zumindest sehr ähnlich. Aber ich werde morgen früh nur noch ganz, ganz entfernt an die Frau erinnern, die ich jetzt bin. Für unsereins ist es einfach wichtig, nach dem Aufstehen das Badezimmer zu erreichen, bevor der Mann, den wir allmählich an uns und unseren morgendlichen Anblick gewöhnen wollen, die Augen aufschlägt.
Wobei es da beispielsweise bei mir gar keinen Unterschied macht, ob ich am Abend geschminkt oder ungeschminkt ins Bett gegangen bin. Im ersten Fall sehe ich aus wie eine weiße Leinwand, die ein schwer erziehbares Kind mit Plakafarben beschmiert hat. Im zweiten Fall sehe ich einfach nur aus wie eine weiße Leinwand. Beides wirkt auf einen unvorbereiteten Betrachter irritierend.
Aber wenn du Julia Roberts bist und aufwachst, dann kannst du ganz unbesorgt die Vorhänge öffnen und ohne Vorsichtsmaßnahmen durchs lichtdurchflutete Schlafzimmer gehen. Im schlimmsten Fall hast du Mundgeruch, so wie normale Frauen auch. Aber das sieht man ja nicht, und wenn du so schön bist, dann erwartet von dir sowieso keiner mehr, dass du auch noch den Mund aufmachst.
Heute Abend bin ich so eine Frau!
Ich wache auf und habe eine sehr klare Vorstellung davon, wie ich aussehe. Vergessen die Pracht von vergangener Nacht. Jetzt bloß nicht in den Spiegel gucken! Ich humple am Bad vorbei in die Küche. Meine Füße tun unglaublich weh. Gestern habe ich zur Verformung meiner ohnehin schon ziemlich ungeraden Zehen Wesentliches beigetragen. Aber Erdal hatte gemeint, eine Frau auf flachen oder auch nur halbhohen Schuhen sei keine echte Frau, sondern nur ein asexuelles Wesen, das möglichst bequem von A nach B gelangen will. «Hoher Absatz steht für großes Selbstbewusstsein», hatte Erdal gesagt, und ich war in meine schwarz-weißen Stilettos geklettert.
Auaaah! Meine Füße würden jaulen, hätten sie Stimmbänder. Ich lege mich mit Fastentee und einem Nutella-Toast wieder ins Bett. Man soll es ja auch nicht übertreiben mit den guten Vorsätzen. Normalerweise würde ich meinen Nutalla-Toast noch dick mit Butter bestreichen und dazu einen Milchkaffee mit drei Stück Zucker trinken. Insofern, versuche ich mir einzureden, ist dieses reduzierte Frühstück für meinen ersten Fastentag doch ein guter Anfang. Doch als mein Blick auf das blaue Kleid fällt, bekomme ich sofort ein aufdringlich schlechtes Gewissen.
Das mit dem Kleid war Erdals Idee. «Wir werden uns eine Motivation schaffen. Wir müssen uns eine Belohnung ausdenken, die uns am Ende unserer Diät erwartet. In den Diät-Ratgebern steht, man solle sich seinen eigenen Körper in schlank vorstellen
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