Blaue Wunder
gerechnet.»
«Von wegen Fitnessvideo, wir müssen anfangen, uns mental mit dünnen Frauen zu identifizieren. Und ich habe dafür das perfekte Schulungsmaterial. Seit einem Jahr nehme ich jedes Schaulaufen über den roten Teppich auf, das im Fernsehen übertragen wird. Bambi, Goldene Kamera, Oscar-Verleihung. Und jedes Mal, wenn ich mir vornehme, meine Ernährung umzustellen und wieder regelmäßig zum Krafttraining zu gehen, schaue ich mir die Bänder an. Diese ganzen schönen, reichen, berühmten Menschen sind doch eine astreine Motivation, findest du nicht?»
Zweifelnd betrachte ich Renee Zellweger, die gerade einem Reporter am Rande des roten Teppichs ein Interview gibt. Die hat, das muss man ja mal sagen dürfen, mit ihrem Gesicht echtes Pech gehabt. Denn egal, ob sie für eine Rolle gerade mal wieder zehn Kilo ab- oder zugenommen hat, ihr Gesicht bleibt immer so rund wie das von Michel aus Lönneberga. Das würde mich ganz schön ärgern an ihrer Stelle: Da hungerst du wochenlang, und was hast du davon? Arsch weg, Brust futsch, Gesicht kreisförmig. Eine Silhouette wie ein Stoppschild.
Das ist bei mir zum Glück anders. Ich weiß noch genau, wie Gregor reagiert hat, als er aus dem Skiurlaub mit seinen Freunden wiederkam. Ich hatte die sieben Tage genutzt, um die Glyx-Diät auszuprobieren. Das Prinzip: einfach alles weglassen, was schmeckt. Keine Nudeln, kein Reis, keine Kartoffeln. Schoki, Alkohol und Zucker sind natürlich auch verboten. Von dem, was dann noch übrig bleibt - im Wesentlichen also Obst, Gemüse und Brennnesseltee -, darfst du dich hemmungslos bedienen. Es war eine harte Woche. Aber meine Bemühungen wurden belohnt.
Als Gregor die Tür aufschloss, seine Ski in die Ecke stellte und mich begrüßen wollte, stutzte er und rief: «Mäuschen, du hast ja Wangenknochen!»
Ich bin also durchaus in der Lage, meinem Körper und meinem Gesicht schärfere Konturen zu verleihen.
«Also, Elli, jetzt schau dir bitte mal diese Lippen und diese Figur an. Atemraubend! Wirklich, daran solltest du dich orientieren.»
Ich bin verwundert.
«Meinst du Tom Hanks?»
«Quatsch, hinten im Bild ist doch gerade Angelina Jolie vorbeigelaufen. Warte, ich spul mal eben zurück.»
Man sieht, dass sogar der amerikanische Reporter, der ja in Sachen Hollywood-Schönheiten einiges gewohnt sein dürfte, aus der Fassung gerät. «Holy Moses!», ruft er beim Anblick des Dekolletes von Frau Jolie. Durch den dünnen Stoff ihres Kleides piksen ihre Brustwarzen durch wie die Knöpfe einer kostenintensiven Stereoanlage.
«Sag mal, Erdal, wie macht die das? Rubbelt die sich in jedem unbeobachteten Moment mit Eisklötzchen über den Busen?»
«Ich glaube, es gibt mittlerweile All-inclusive-Implantate mit dauererigierten Brustwarzen.»
«Soso, und du findest, an Angelina Jolie sollte ich mir ein Beispiel nehmen? Erdal, ich bitte dich, an der ist doch nichts echt.»
«Na und? Lieber nicht echt als echt schlecht, sag ich immer. Vielleicht solltest du auch eine Operation in Erwägung ziehen. Ein Exfreund von mir arbeitet in einer führenden Klinik für plastische Chirurgie.»
«Spinnst du?»
«Wieso? Sieh es doch von der praktischen Seite. Du könntest dir das Fett aus deinen Oberschenkeln in die Brüste implantieren lassen, und im Handumdrehen hättest du eine gute Figur, nur durch Umverteilung körpereigener Ressourcen. Hätte ich genug Geld, würde ich das sofort machen. Essen und trinken, so viel ich will, null Sport und dann einfach alle drei Monate den ganzen Mist absaugen lassen.»
«Dass ich nicht lache. Du bekommst doch schon Panikattacken, wenn du nur einen Wegweiser siehst, auf dem steht.»
«Da hast du allerdings Recht. Ist schon komisch: Auf der einen Seite beruhigt es mich enorm, zu wissen, dass ein Krankenhaus in der Nähe ist, auf der anderen Seite drehe ich fast durch bei der Vorstellung, dass der Dienst habende Arzt womöglich gerade mit jemand anderem beschäftigt sein könnte. Meinst du, ich sollte mal eine Therapie machen?»
Ob ich meine, Erdal soll mal eine Therapie machen? Ich bin fest davon ausgegangen, dass Erdal bereits in Therapie ist. Und zwar mehrmals in der Woche. Bei seinen ganzen seltsamen Spleens, Marotten, Ticks und Hypochondrien würde ich sogar einen stationären Aufenthalt in einer Psycho-Klinik empfehlen. Aber ich will meinen sensiblen Mitbewohner nicht unnötig beunruhigen und versuche, das Gespräch einfühlsam auf ein anderes Thema zu lenken.
«Zum Glück hast du nicht
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