Blaue Wunder
schon schlimm genug, war sie noch dazu blutjung, Anfang zwanzig meiner Schätzung nach. Ich stand vor ihr wie ein Tourist vorm Kölner Dom und wusste, dass ich verloren hatte. Schlimmer noch: dass ich niemals auch nur die leiseste Chance hatte.
Es gibt diese Makellosen, die man nicht beneiden kann. Du bist vielleicht neidisch auf einen, der tausend Euro mehr verdient als du. Du bist vielleicht auch noch neidisch auf einen Millionär. Aber wenn einer Milliarden hat? Nein, da lohnt der Neid nicht. So jemand ist zu weit weg von deiner Welt, von dem, was in deiner Welt möglich ist und was du dir überhaupt vorstellen kannst. Ich bin absolut nicht frei von Neid, aber ich beneide immer solche Leute, die nur ein bisschen besser sind als ich: Frauen, die eine Kleidergröße unter mir liegen, Männer, die das Taxi bekommen, nach dem ich die ganze Zeit winke, Menschen, die den Italienischkurs machen, für den ich mich nur angemeldet habe. Ich bekomme aber schon lange keine Komplexe mehr, wenn sich im Fitnessstudio neben mir eine Achtzehnjährige umzieht, die das Schicksal mit Körbchengröße C, dafür aber mit einer zu vernachlässigenden Anzahl von Fettzellen gesegnet hat. Warum soll ich Leute beneiden, die einen Doktor in Philosophie und glattes, gut sitzendes Haar haben? Ich bin eben mehr der praktische, lebensnahe Typ, und ein ungünstig platzierter Wirbel bleibt ein ungünstig platzierter Wirbel, ein Leben lang.
Nein, ich beneidete Astrid Crüll nicht. Ich gab mich einfach geschlagen. Sie sah aus wie Winona Rider in Blond. Mit riesigen braunen Augen, edlen Wangenknochen, weißer Marmorhaut und kurzen, ein wenig verstrubbelten Haaren, die den reizenden Kindchenausdruck ihres Gesichts noch verstärkten.
Das war also die Frau, die mit schriller Stimme auf Martin eingeschimpft hatte, als ich auf der Dachterrasse stand. Die Frau mit Höhenangst und enger Beziehung zu Martins Mutter. Das war die Frau, die Martin betrogen hatte. Und zwar mit mir! Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen stolz war, auf seltsame Weise zufrieden und mit mir im Reinen. Es gab in der Sache Martin Gülpen nichts mehr für mich zu tun.
Ein paar Sekunden zu spät bemerkte ich, dass Tina aufgehört hatte zu reden und mich eindringlich ansah. Ich setzte schnell einen gläubigen Blick auf und reichte Astrid einen «Wachtturm». Sie schenkte mir ein bezauberndes Lächeln und sagte: «Isch hierr Unterrmietär für kurz Zait. Maine Name sein Clara, isch Model aus Ungaria. Sage Frau Aschtrid Bescheid, wenn kommt. Servusz!»
Tina und ich steuerten ohne Umweg die nächste Kneipe an.
Wie hatte Clara, das Model mit dem reizenden ungarischen Akzent, Stumpi genannt? «Frau Aschtrid». Ich fand, das klang sehr nach: Frau Arschtritt! Was für ein reizender, neuer Kosename war mir da zugefallen.
Aber es nützt nichts, ich bin untröstlich. Sechs Tage warten und hoffen und immer wieder verzweifeln. Und man kann nicht gerade behaupten, dass ich mich in diesen Tagen wie eine vernunftbegabte Frau verhalten habe, die ihrem Schmerz mit Würde und Anstand begegnet. Im Gegenteil: Eine unentschlossen lesbische Irre rennt mit einem selbst gebastelten Liebesplakat besoffen durch die Gegend, gibt sich als Zeugin Jehovas aus und wartet auf ein Zeichen ihres Exfreundes, der vermeintlich in die dürren Arme eines ungarisches Megamodels zurückgekehrt ist.
Ich liege mal wieder starr vor Kummer auf meinem Bett und weiß nicht, wie ich das alles noch länger aushalten soll. Ich presse mir Martins Pullover aufs Gesicht. An einem der romantischen Abende auf seiner Dachterrasse hat er ihn mir mal ausgeliehen, und ich hatte ihn versehentlich mitgenommen. Seither bin ich so oft mit dem Pullover im Arm eingeschlafen, habe so oft meine Nase reingesteckt, reingeweint, reingeschimpft und reingeschnarcht, dass er überhaupt nicht mehr nach Martin riecht. Ich habe das Teil praktisch leer gerochen, und wenn ich jetzt meine Nase hineindrücke, finde ich keinen Trost mehr, keine Wehmut und keine schöne Erinnerung. Ein Kleidungsstück, das nicht mehr nach dem riecht, dem es gehört hat, sagt dir nur immer wieder, wie lange die glückliche Zeit schon vorbei ist.
Als mein Opa starb, hat meine Oma all seine Sachen sofort weggegeben. Bis auf den Schlafanzug, den er in seiner letzten Nacht trug. Den hat sie bei sich behalten, zum Trost in der Nacht, so lange, bis er Opis Geruch verloren hatte. Und als es so weit war, hat sie geweint und gesagt: «Jetzt gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm.
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