Blaue Wunder
die Männerwelt verloren?
Über dem Text das Beweisfoto. Natürlich, die zwei Blitze vor Tinas Haustür. Von wegen fernes, romantisches Gewitter und Blitzezucken wie im französischen Film. Das war das Blitzlicht des «Bild»- Fotografen!
Tina war eindeutig zu erkennen. Von mir sah man zum Glück viel Hinterkopf und wenig Profil.
Ich merke, wie mir alle Farbe aus den Wangen weicht, eine ungewöhnliche Erfahrung für mich.
«Ach, Elli, jetzt mach doch nicht so ein Gesicht, ich finde, dein Haar sitzt perfekt auf dem Foto.»
«Ich soll nicht so ein Gesicht machen? Wo alle Welt jetzt denkt, ich bin eine frisch verbandelte Lesbe? Dabei bin ich ein unglücklicher Hetero-Single. Wie soll ich jemals wieder einen Mann bekommen?»
«Jetzt reiß dich aber mal zusammen, wirklich schlimm ist doch die Situation für Tina. Sie ist eine Person des öffentlichen Lebens. Für dich, mit Verlaub, interessiert sich doch keine Sau. Stell dir das doch mal vor: Man wird jetzt mit dem Finger auf Tina zeigen, weil jeder sie für eine Lesbe hält.»
«Aber im Gegensatz zu mir ist Tina wenigstens eine Lesbe!», bricht es aus mir heraus.
Es tut mir auf der Stelle Leid, als ich Erdals entgeistertes Gesicht sehe. Er trinkt in einem Zug meinen Baldrian-Melisse-Tee und schüttelt immer wieder den Kopf.
«Elli, das fasse ich einfach nicht. Warum hab ich das bloß nicht gemerkt? Und warum hat sie mir nie was davon erzählt?»
Ich bekomme zwei SMS. Ach, du Schande, meine Mutter. Womöglich hat sich die ganze Sache schon bis ins Münsterland rumgesprochen. Ihr Handy hat meine Mutter von mir zu Weihnachten bekommen. SMS zu schreiben ist seither für sie die absolute Verjüngungskur. Wo andere Frauen ihres Alters drei Kaviar-Ampullen benötigen, braucht meine Mutter nur eine SMS zu tippen, dann strafft sich ihre Haut, sie strahlt wie ein junges Mädchen und fühlt sich irre modern und jung geblieben.
Gott sei Dank scheinen meine neuen sexuellen Neigungen noch nicht bis zu ihr durchgedrungen zu sein: «Wie geht es meinem kleinen Elli-Mäuschen in der Großstadt? Papa hat Husten. Deine Mama.» Aha.
Die zweite SMS ist von Tina: «Nicht aufregen! Gebe demnächst ein Interview, wo ich alles klarstelle. Ziehe mich bis dahin ein wenig zurück. Gruß von deiner Tina.»
Tja, soll ich jetzt beruhigt sein? Ich lese Erdal die Nachricht vor.
«Ist doch alles bestens, Elli, Tina wird alles abstreiten und sagen, du bist eine gute Freundin von außerhalb, die bei ihr übernachtet hat. Jetzt entspann dich. Hast du heute Abend schon was vor?»
«Trinken, trauern, Briefe schreiben, die ich nie abschicken werde. Das Übliche eben.»
«Du brauchst Ablenkung. Und Bewegung. So richtig viel hast du meiner Meinung nach noch nicht abgenommen, oder? Denk dran: nur noch zehn Tage bis zum Wolkenball.»
«Danke, Erdal, wie feinfühlig von dir, mich in meiner größten Lebenskrise daran zu erinnern.»
«Ich habe das perfekte Gegenmittel für dich: Fettverbrennung und Ablenkung in einem! Pack dein Sportzeug zusammen, wir gehen in mein Fitnessstudio. In einer Dreiviertelstunde läuft da ein fabelhafter Kurs.»
Ich hatte schon in der Umkleidekabine bemerkt, dass ich nicht das Richtige zum Anziehen dabeihatte. In der «Fitness Oase» in Hiltrup tragen die Frauen in der Regel Sportbekleidung, wenn sie Sport machen. Eine dunkle Trainingshose, ein Sport-BH und darüber ein schlabberiges T-Shirt sind dort durchaus üblich. Für ebendiese Kombination hatte auch ich mich heute entschieden.
Meistens schäme ich mich in Umkleideräumen in dem Moment am meisten, wenn ich nackt bin. Aber diesmal schämte ich mich sogar noch ein winziges bisschen mehr, als ich wieder angezogen war. Zu meiner ausgebeulten Jogginghose trug ich ein fast knielanges XXL- Shirt mit der Aufschrift «Volksbank Eifel Mitte». Verwirrt beobachte ich die Gewohnheiten der Großstädterinnen. Im Münsterland schminken wir uns vor dem Turnen ab, die Hamburgerin hingegen legt vorher noch etwas stark haftendes Spezial-Make-up auf. Die Dame neben mir sprühte sich sogar, bevor sie ihren mandarinenfarbenen Einteiler mit Hüftgürtel anzog, etwas Deo zwischen die Beine. Hilfe, wo war ich hier gelandet? Im Sport- oder im Sexclub?
Ich floh schnell Richtung Studio drei, wo mich Erdal erwartete, der zum Glück keine Bemerkung über mein Outfit machte.
«Was ist das hier eigentlich für ein Kurs?», flüsterte ich Erdal zu, als wir uns aufstellten. Er wollte leider unbedingt in die erste Reihe, um die Trainerin
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