Blaue Wunder
überhaupt nicht mehr sicher. Du hast mich einfach umgehauen, Elli. Damit hatte ich nicht gerechnet.»
«Mmmh?»
«Die Umstände sind so wahnsinnig ungünstig.»
«Was für Umstände?», höre ich mich krächzen. Ich bin ja noch gar nicht ganz wach, muss zudem eine ungünstige Haarkonstellation befürchten und bin mit der Gesamtsituation überfordert.
«Na ja, du weißt schon, die Sache mit Astrid. Ich gebe der Beziehung, ehrlich gesagt, keine große Chance mehr, aber ich bin ihr schuldig, es wenigstens nochmal zu versuchen. Astrid will in Bielefeld eine Art Neuanfang machen. Aber jetzt nach dieser Nacht und nachdem du mir die letzten zwei Wochen nicht aus dem Kopf gegangen bist.»
«Du gehst mit Astrid nach Bielefeld?»
«Na ja, nicht sofort. Sie will in zwei Monaten nachkommen und zunächst bei mir die Buchhaltung machen. Sie versteht ja ein bisschen was davon. Ich wollte es dir eigentlich schon gestern sagen, aber ich hatte den Eindruck, dass dich das gar nicht interessiert. Du warst so gelassen und souverän, ich wollte die Stimmung nicht zerstören. Und jetzt weiß ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht.»
«Du willst mir sagen, dass du dich nicht entscheiden kannst zwischen mir und deiner Verlobten und dass du uns gerne beide noch eine Weile ausprobieren möchtest, bevor du deine Wahl triffst?»
«Also, so hart würde ich es nicht ausdrücken.»
«Wie würdest du es denn ausdrücken?»
Ich bin selber verwundert, wie kühl und sachlich ich bleibe. Mein Kopf arbeitet mit den Informationen, die mein Herz glücklicherweise noch nicht erreicht haben.
«Ich will dich nicht verlieren, aber Astrid hat es nicht verdient, dass ich sie so verletze. Es ist für mich nicht leicht, herauszufinden, ob ich sie noch liebe oder mich einfach nur in all den Jahren an sie gewöhnt habe. Ich brauche etwas mehr Zeit.»
«Ich verstehe.»
Meine Stimme klingt so kalt und blechern, als hätte ich mich innerhalb von Sekunden in eine Dose Eistee verwandelt.
«Elli, darf ich dich bitten, mir noch bis Sonntag Zeit zu lassen? Bin ich dir das wert? Ich verspreche, ich verlasse Hamburg nicht, ohne eine klare Entscheidung zu treffen. Gibst du mir, gibst du uns diese Chance?»
«Das ist verdammt viel verlangt.»
«Ich weiß.»
«Also gut. Bis Sonntag.»
Martin macht ein paar unsichere Schritte auf mich zu und gibt mir einen zaghaften Kuss auf die Stirn.
«Danke, Elli, du bist eine großartige Frau.»
Drei Sekunden später fällt die Tür ins Schloss, und ich bin allein.
Herzfrequenz: 128
Verbrauchte Kalorien: 740
Zeit: 32 Minuten 12 Sekunden
Das Gute an so einer Gemütsverfassung ist ja, dass die Zeit wie im Überschallflug vergeht und die Kalorien so rückstandslos und schnell verbrennen wie Blattläuse in einem Osterfeuer. Ich kann mich nicht erinnern, jemals länger als fünfundzwanzig Minuten am Stück auf dem Cross-Trainer zugebracht zu haben. Das hat zum einen natürlich mit mangelnder Kondition zu tun, zum anderen aber auch damit, dass ich mich bereits nach anderthalb Minuten so derartig langweile, dass ich wahrscheinlich einschlafen und schnarchend vom Trainingsgerät kippen würde, wenn das biologisch gesehen möglich wäre.
Üblicherweise versuche ich dann, mich in irgendwas reinzusteigern, um mich abzulenken. Es ist tatsächlich so, dass bei mir die Empfehlung «Mach erst mal ’ne Runde Sport, um dich abzureagieren» immer voll nach hinten losgeht und das komplette Gegenteil bewirkt. Viele Streits, zum Beispiel mit Gregor, sind nach meinem Besuch in der Hiltruper «Fitness Oase» erst so richtig eskaliert, weil ich auf dem Trimmrad die Gelegenheit fand, mich bei ohnehin schon hoher Herzfrequenz nochmal so richtig über die Angelegenheit aufzuregen. Die kurzweiligsten Aufenthalte auf dem Laufband hatte ich zum Beispiel immer dann, wenn ich mir ausmalte, wie es wäre, wenn Gregor mich betrügen würde. Spätestens nach sechs Minuten bei einer Geschwindigkeit von 9,5 Kilometern pro Stunde hatte ich mir eine schlüssige Beweiskette ausgedacht, nach zwölf Minuten war Gregor so gut wie überführt, und aus meinem vagen, durch Langeweile in Kombination mit Herzrasen ausgelösten Anfangsverdacht war eine Tatsache geworden. Meist brach ich das Training dann frühzeitig nach etwa sechzehn Minuten ab, um nach Hause zu eilen und Gregor zur Rede zu stellen.
Na ja, was soll ich sagen, in der Regel ist mein Leben eben nicht aufregend genug, als dass es, sozusagen im unbearbeiteten Zustand, für genug Ablenkung auf
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