Blauer Montag
Privatsphäre«, wiederholte Josef nachdenklich. »Haben Sie das bei mir auch gedacht, als ich zu Ihrem Haus gekommen bin?«
»Das ist doch etwas ganz anderes«, entgegnete Frieda,
»schließlich machen Sie keine Therapie bei mir. Meine Patienten stelle ich in der Regel vor ein großes Rätsel. Viele von ihnen haben Fantasien, die mich betreffen, und etliche verlieben sich sogar in mich. Das geht aber nicht nur mir so. Es ist eine Begleiterscheinung des Berufs. Trotzdem muss man da ein bisschen aufpassen.«
Josef sah zu ihr hinüber. »Verlieben Sie sich auch?«
»Nein«, antwortete Frieda. »Als Therapeut weiß man alles über seine Patienten, man kennt ihre Fantasien, ihre geheimen Ängste, ihre Lügen. Man verliebt sich nicht in jemanden, über den man all das weiß. Ich erzähle meinen Patienten ganz bewusst nichts von meinem Leben, und ich lasse sie für gewöhnlich nicht mal in die Nähe meines Hauses.«
»Was haben Sie dann mit Alan gemacht?«
»Meine Regel gebrochen«, erwiderte Frieda. »Ich habe ihn in mein Haus gelassen, wenn auch nur für ein paar Minuten. In diesem besonderen Fall musste ich mir eingestehen, dass er ein Recht darauf hatte, neugierig zu sein.«
»Sie haben ihm alles erzählt?«
»Wie soll ich ihm alles erzählen, wenn ich es selbst noch kaum verstehe? Deswegen fahren wir jetzt ja hier heraus.«
»Was haben Sie ihm gesagt?«
Frieda schaute aus dem Fenster. Wie seltsam, zehn Minuten außerhalb von London auf einem Bauernhof zu leben. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass sie, sollte sie London je verlassen, irgendwo ganz weit draußen leben würde, Stunden oder gar Tage von der Stadt entfernt. Ein stillgelegter Leuchtturm wäre gut. Oder vielleicht sogar ein nicht stillgelegter. Konnten Therapeuten auf Leuchtturmwärter umschulen? Gab es überhaupt noch Leuchtturmwärter?
»Es war ziemlich schwierig«, berichtete Frieda. »Ich habe versucht, es ihm möglichst schonend beizubringen. Vielleicht habe ich dabei auch nur mich zu schonen versucht. Wie soll man jemandem wirklich schonend beibringen, dass er einen
Bruder hat, von dem er bisher nichts wusste?« Frieda war nicht sicher, inwieweit Josef überhaupt verstand, was sie sagte.
»War er wütend auf Sie?«
»Er hat eigentlich kaum eine Reaktion gezeigt. Abgesehen davon, dass er ganz still wurde«, antwortete Frieda. »Viele Leute verfallen vor lauter Schock erst mal in eine seltsame Art von Starre, wenn man ihnen etwas wirklich Einschneidendes mitteilt – etwas, das ihr ganzes Leben verändert. Ich habe ihm erklärt, dass ich ihm bestimmt bald mehr dazu sagen könne, aber dass die Polizei vielleicht noch einmal ins Spiel kommen werde – wobei ich das natürlich nicht mit Sicherheit weiß. Ich habe keine Ahnung, ob die Sache tatsächlich etwas mit dem kleinen Jungen zu tun hat oder ob da meine Fantasie mit mir durchgegangen ist. Jedenfalls habe ich ihm gesagt, dass es mir leidtäte, falls es noch einmal dazu kommen sollte, aber dass es diesmal nicht das Geringste mit ihm zu tun habe. Das war viel harter Tobak auf einmal.«
»Was hat er gesagt?«
»Ich habe versucht, ihm einen Kommentar zu entlocken, aber er wollte nicht darüber sprechen. Er hat nur für eine Weile den Kopf in die Hände sinken lassen. Vielleicht hat er sogar geweint, da bin ich mir aber nicht sicher. Ich nehme an, er braucht Zeit für sich allein, um über das alles nachzudenken. So etwas muss sich erst einmal setzen.«
»Glauben Sie, er will seinen Zwilling kennenlernen?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Frieda. »Darüber denke ich auch schon die ganze Zeit nach. Ich habe das Gefühl, dazu wird es nicht kommen. Meiner Meinung nach geht es Alan in erster Linie um die Schuldgefühle, die er empfindet, deren Ursache er aber nicht versteht. Am meisten hat ihn erschüttert, dass ich noch einmal mit der Polizei reden will. Die Vorstellung, erneut zu der Sache befragt zu werden, macht ihm offenbar schwer zu schaffen. Deswegen war es gut, dass er es gleich von mir erfahren hat. Ich dachte eigentlich, er würde deswegen
wieder sauer auf mich werden, aber dafür war er wohl zu schockiert. Er ist einfach gegangen. Ich hatte das Gefühl, ihn im Stich zu lassen. Eigentlich ist es ja meine Aufgabe, meinem Patienten zu helfen.«
»Sie finden die Wahrheit«, meinte Josef zuversichtlich.
»In meiner Berufsbeschreibung steht aber nichts von Wahrheitsfindung«, entgegnete Frieda. »Das Ziel sollte eigentlich sein, den Patienten im Umgang mit seinen Problemen zu
Weitere Kostenlose Bücher