Blauer Montag
demonstrieren, wer bei der ganzen Sache die Oberhand hat.«
»Das wissen wir doch schon. Er. Wir müssen ihn trotzdem einkassieren. Und seine Frau oder Lebensgefährtin ebenfalls. Auch wenn es uns nicht viel nützen wird.«
»Er spielt mit uns.«
»Wir werden sehen.«
34
S eth Boundy wählte Kathy Ripons Handynummer. Er lauschte dem Klingelton, bis sich die Mailbox einschaltete. Er hinterließ eine weitere Nachricht, die jedoch genauso lautete wie seine vorherigen Nachrichten: Ruf mich sofort zurück. Er warf noch einmal einen Blick in seine Mails, um sich zu vergewissern, dass in den wenigen Minuten, die vergangen waren, seit er zum letzten Mal nachgeschaut hatte, nicht doch noch eine Mail von ihr eingegangen war. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie in seiner Junk Mail gelandet war, sah er auch diesen Ordner durch. Ihr Schweigen ärgerte ihn so, dass er an gar nichts anderes mehr denken konnte. Was führte sie im Schilde?
Seine Frau klopfte kurz an seiner Arbeitszimmertür und kam herein, ehe er ihr sagen konnte, dass er beschäftigt sei. »Es gibt Mittagessen«, sagte sie.
»Ich habe keinen Hunger.«
»Ich dachte, du wolltest zum Einkaufen. Du hast gesagt, du hättest einiges zu erledigen, bist aber offenbar noch zu gar nichts gekommen. Soll ich vielleicht ein Geschenk für deine Schwester besorgen?«
»Nein, das mache ich später.«
»Es sind nur noch drei Tage bis Weihnachten. Du hast Ferien.«
Boundy bedachte seine Frau mit einem derart vernichtenden Blick, dass sie freiwillig den Rückzug antrat und die Tür hinter sich schloss. Dieses Mal versuchte er es auf Kathys Festnetz. Es klingelte und klingelte, ohne dass jemand ranging. Er überlegte krampfhaft. Natürlich wohnte sie in Cambridge, aber
wohin fuhr sie in den Ferien? Wo lebten ihre Eltern? Er konnte sich vage daran erinnern, dass sie ihm von ihrer Familie erzählt hatte. Obwohl er ihr damals nicht richtig zugehört hatte, war irgendetwas in seinem Gedächtnis hängen geblieben. Was war das bloß gewesen? Irgendetwas über Käse. Genau. In ihrer Heimatstadt gab es einen Käserollwettbewerb. Er gab das Stichwort Käserollen bei Google ein und stieß sofort auf Dutzende Einträge zu dem Käserollwettbewerb, der jedes Jahr auf Copper’s Hill in Gloucester stattfand.
Seth rief bei der Auskunft an und fragte nach der Nummer einer Familie Ripon in Gloucester, von der er leider keinen Vornamen wisse. Wie sich herausstellte, gab es nur einen einzigen Eintrag unter diesem Namen. Er wählte die Nummer. Eine Frau ging ran. Ja, sie sei Kathys Mutter. Nein, ihre Tochter sei nicht da. Sie komme zwar zu Weihnachten, sei aber noch nicht eingetroffen. Nein, sie wisse nicht, wo sich ihre Tochter gerade aufhalte. Seth Boundy beendete das Gespräch. Was zunächst Ärger gewesen war, verwandelte sich zuerst in Verwirrung und dann allmählich in Sorge. Diese Frau, Dr. Klein… Warum hatte sie eigentlich so dringend mit ihm reden wollen? Warum hatte die Sache keinen Aufschub geduldet? Die Aussicht auf ein neues, noch unentdecktes Zwillingspaar hatte ihn derart in Aufregung versetzt, dass er über den Hintergrund von Dr. Kleins Besuch kaum mehr nachgedacht hatte. War das womöglich ein schlimmer Fehler gewesen? Eine Weile saß er reglos in seinem Sessel, die Stirn in tiefe Falten gezogen. Dann griff er ein weiteres Mal nach seinem Handy.
Das hohe, schrille Geräusch war schon lange verstummt. Wie lange, wusste er nicht. Es gab keine Tage mehr, nur noch endlose Nacht. Das Geräusch hatte ihn nur so lange begleitet, wie seine Mutter brauchte, um ihm abends vor dem Zubettgehen eine Geschichte vorzulesen. Als er noch Matthew war. Rotkäppchen , das vom Wolf verschlungen wurde. Hänsel und
Gretel , die sich im Wald verliefen und vergeblich darauf warteten, dass ihr Vater kam und sie fand. Da war ein Keuchen gewesen und ein Schnauben, und dann lautes Gekreische und ein Geratter wie von einer rostigen Maschine, die verrückt spielte und sich selbst zerhackte. Aber die schrecklichen Geräusche waren ganz schnell vorbei gewesen und hatten ihn wieder in Ruhe gelassen. Er war wieder allein gewesen mit dem Rascheln in der Ecke, dem Wassergetröpfel, dem Holpern seines Herzens und dem scheußlichen Gestank nach ihm selbst. Sein Körper war ausgelaufen. Er lag in seinen eigenen Überresten. Aber wenigstens war er allein. Er hatte sein Versprechen gehalten und keinen Laut von sich gegeben.
Frieda tigerte in ihrem Sprechzimmer auf und ab. Dass Alan vor der Tür
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