Blauer Montag
da?«, fragte Frieda.
»Sie haben sich häuslich niedergelassen«, erklärte Karlsson. »Wie Möwen rund um eine Müllkippe. Wir fahren zum Hintereingang.«
»Ist er da drin?«, fragte Alan plötzlich.
»Sie brauchen ihn nicht zu sehen.«
Alan drückte das Gesicht an die Scheibe wie ein kleiner Junge, der in eine Welt hinausspähte, die er nicht verstand.
35
F rieda saß mit Alan in einem kleinen kahlen Raum. Sie hörte Telefone klingeln. Jemand brachte ihnen lauwarmen, sehr milchigen Tee und verschwand dann wieder. Der Minutenzeiger der Wanduhr drehte sich langsam, während der Nachmittag verging. Draußen glitzerte alles frostig, aber bei ihnen im Raum war die Luft abgestanden und schwül warm. Sie sprachen kaum miteinander, denn dafür war das nicht der richtige Ort. Alan zog immer wieder sein Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Irgendwann schlief er ein. Frieda erhob sich und spähte aus dem kleinen Fenster. Draußen standen zwei Baucontainer. Die Dämmerung setzte bereits ein.
Die Tür ging auf. Es war Karlsson. »Kommen Sie.« Frieda sah auf den ersten Blick, dass er vor Wut kochte. Sein Gesicht zuckte, als könnte er sich kaum beherrschen.
»Was ist los?«
»Folgen Sie mir!«
Sie durchquerten ein Großraumbüro, in dem hektische Betriebsamkeit herrschte. Ständig klingelten Telefone, und der ganze Raum war von Stimmengewirr erfüllt. An einem Ende war eine Besprechung im Gange. Vor einer Tür blieb Karlsson stehen.
»Da drin ist jemand, mit dem Sie reden sollten«, erklärte er mit grimmiger Miene. »Ich komme auch gleich.«
Frieda wollte ihn noch etwas fragen, doch er hatte die Tür bereits geöffnet, und sie hielt überrascht inne. Der Anblick von Seth Boundy kam für sie so unerwartet, dass sie sich im ersten Moment nicht einmal erinnern konnte, wer er war. Er sah auch anders aus. Das Haar stand ihm in kleinen Büscheln vom Kopf
ab, und seine Krawatte war gelockert. Auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen. Als er Frieda sah, stand er auf, setzte sich jedoch gleich wieder.
»Sie müssen entschuldigen, aber ich verstehe nicht recht …«, begann Frieda. »Was tun Sie hier?«
»Ich wollte mich lediglich verhalten wie ein verantwortungsbewusster Bürger«, murmelte er. »Ich wollte bloß kundtun, dass ich mir um jemanden Sorgen mache, und plötzlich werde ich nach London verschleppt. Das ist wirklich …«
»Um wen machen Sie sich denn Sorgen?«, fiel Frieda ihm ins Wort.
»Eine von meinen wissenschaftlichen Hilfskräften scheint irgendwie abhanden gekommen zu sein. Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten. Sie ist schließlich eine erwachsene Frau.«
Frieda nahm ihm gegenüber Platz, stützte beide Ellbogen auf den zwischen ihnen stehenden Tisch und musterte Boundy eindringlich. Nervös schweifte sein Blick zum Fenster und wieder zurück. Als sie ihn erneut ansprach, klang ihre Stimme ruhiger, aber auch härter. »Aber warum sind Sie hier? Warum hat man Sie nach London gebracht?«
»Ich …« Er hielt inne und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Seine Brille saß schief. »Es war so eine einmalige Gelegenheit. Sie können das vielleicht nicht nachvollziehen, Sie sind ja keine Wissenschaftlerin. Solche Fälle werden immer seltener.«
»Die Adressen«, dämmerte es Frieda. Boundy sah sie verlegen an und leckte sich dabei nervös die Lippen. »Sie haben jemanden zu den Adressen geschickt, die ich Ihnen gegeben habe«, fuhr sie fort.
»Sie sollte doch nur den ersten Kontakt herstellen. Das machen wir immer so.«
»Und Sie haben seitdem nichts mehr von ihr gehört?«
»Sie geht nicht ans Telefon«, antwortete Boundy.
»Warum haben Sie mich nicht informiert?«
»Das Ganze war reine Routine.«
»Wie heißt diese wissenschaftliche Hilfskraft?«
»Katherine Ripon. Sie ist eine sehr fähige Kraft.«
»Und Sie haben sie allein losgeschickt?«
»Sie ist Psychologin. Es ging doch nur um ein kurzes Interview.«
»Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie da getan haben?«, herrschte Frieda ihn an. »Wissen Sie denn nicht, wer dieser Mann ist?«
»Woher hätte ich das wissen sollen?«, entgegnete Boundy. »Mein Eindruck war, dass Sie die Zwillinge für sich behalten wollten. Sie haben mir nichts über den Mann erzählt.«
Am liebsten hätte Frieda ihn geohrfeigt oder angeschrien, doch sie beherrschte sich. Vielleicht war es ja genauso sehr ihre Schuld wie seine. Hätte ihr nicht klar sein müssen, was er tun würde? Setzte man bei ihrem Beruf nicht eine gute
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