Blauer Montag
Augenwinkel mit, was auf der anderen Straßenseite vor sich ging.
Später, als ihr zweiter Patient, der wegen seiner immer schlimmer werdenden manisch-depressiven Störung an sie überwiesen worden war, auf seinem Platz herumzappelte und dann aufstand, um sich anschließend sofort wieder zu setzen und in zornigem Ton die Stimme zu erheben, beobachtete Frieda, wie die Birne in den großen Wohnblock krachte. Wie konnte etwas, dessen Bau so viel Zeit in Anspruch genommen hatte, derart schnell zusammenbrechen? Schornsteine knickten ein, Fenster zerbarsten, Böden verschwanden, Gehwege wurden ausradiert. Bis zum Ende der Woche würde alles in Schutt und Asche liegen, und Männer mit Schutzhelmen würden über
das verwüstete Gelände laufen und auf Kinderspielzeug und Möbelstücken herumtrampeln. Binnen eines Jahres würden neue Gebäude auf den Ruinen der alten stehen.
Frieda erklärte den Männern und Frauen, die den Weg in ihre Praxis fanden, sie wolle ihnen einen geschützten Raum bieten, in dem sie ihre finstersten Ängste und unzulässigsten Begierden erforschen könnten. Im Sprechzimmer war es kühl, sauber und ordentlich. Der Wandschmuck beschränkte sich auf eine einzige Zeichnung, das Mobiliar auf zwei einander gegenüberstehende Stühle mit einem niedrigen Tisch dazwischen. Eine Lampe spendete im Winter sanftes Licht, und auf dem Fensterbrett stand eine Topfpflanze. Draußen wurde gerade eine ganze Häuserreihe abgerissen, doch hier drinnen waren die Menschen, wenn auch nur für eine Weile, sicher vor der Welt.
Alan war klar, dass Dr. Foley sich seinetwegen keinen Rat mehr wusste. Wahrscheinlich sprach er mit seinen Kollegen aus der Gemeinschaftspraxis über ihn: »Dieser verdammte Alan Dekker schon wieder! Dauernd jammert er mir vor, dass er nicht schlafen kann und mit seinem Leben nicht klarkommt. Kann der Kerl sich nicht einfach zusammenreißen?« Dabei hatte er so sehr versucht, sich zusammenzureißen. Er hatte die Schlaftabletten genommen, seinen Alkoholkonsum reduziert und mehr Sport getrieben. Trotzdem lag er nachts wach und spürte, wie der Schweiß in Strömen an ihm hinabfloss und sein Herz rasend schnell schlug. In der Arbeit saß er stocksteif und mit geballten Fäusten an seinem Schreibtisch, starrte auf die vor ihm liegenden Papiere hinunter und wartete verzweifelt darauf, dass seine Angstzustände sich wieder legten, ohne dass die Kollegen etwas davon mitbekamen. Er empfand es als demütigend, derart die Kontrolle zu verlieren. Es machte ihm Angst. Carrie sprach von Midlife-Crisis. Immerhin war er schon zweiundvierzig. In diesem Alter tickten viele Männer
aus. Plötzlich begannen sie zu trinken, kauften sich ein Motorrad und hatten Affären – in der Hoffnung, sich dadurch wieder jung zu fühlen. Aber er wünschte sich weder ein Motorrad noch eine Affäre. Jung wollte er auch nicht mehr sein: nichts als Peinlichkeiten und Schmerz und ständig das Gefühl, im falschen Leben zu stecken. Erst jetzt, mit Carrie, war er in seinem richtigen Leben angekommen. In dem kleinen Haus, auf das sie so lange gespart hatten und das sie noch dreizehn weitere Jahre abbezahlen würden. Es gab durchaus Dinge, von denen er träumte, aber bestimmt hatte jeder irgendwelche Träume und Hoffnungen. Wobei andere im Gegensatz zu ihm nicht im Park zusammenbrachen oder nachts weinend aus dem Schlaf hochschreckten. Manchmal hatte er auch diese Albträume – über die er nicht einmal nachdenken wollte. Das war einfach nicht normal. Ganz bestimmt war es alles andere als normal. Er wollte, dass diese Albträume aufhörten. Er wollte nicht die Sorte Mensch sein, die solche Dinge im Kopf hatte.
»Die Tabletten, die Sie mir gegeben haben, wirken nicht«, erklärte er Dr. Foley. Am liebsten hätte er sich dafür entschuldigt, dass er schon wieder da war und dem Arzt die Zeit stahl, obwohl sein Wartezimmer doch voller Patienten mit echten Krankheiten und echten Schmerzen war.
»Immer noch Probleme mit dem Schlafen?« Dr. Foley sah ihn nicht an. Stattdessen blickte er auf seinen Computerbildschirm und tippte stirnrunzelnd irgendetwas ein.
»Nicht nur das.« Alan bemühte sich um einen ruhigen Ton. Sein Gesicht fühlte sich an wie aus Gummi, als gehörte es einer anderen Person. »Ich bekomme so schreckliche Zustände.«
»Sie meinen Schmerzen?«
»Mein Herz fühlt sich an, als würde es aufgepumpt, und gleichzeitig habe ich einen metallischen Geschmack im Mund. Ich weiß auch nicht.« Verzweifelt versuchte er, die
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