Blauer Montag
verbracht und sich nur herausgekämpft hatte, um hier bei ihr zu erscheinen.
Er ließ sich ihr gegenüber in den Sessel auf der anderen Seite des kleinen Couchtisches sinken. Noch immer sah er sie nicht an, sondern starrte stattdessen durchs Fenster auf die Reihe der reglos verharrenden Kräne, die im Zwielicht der Dämmerung
wie gespenstische Gestalten wirkten. Allerdings fragte sich Frieda, ob er dort draußen überhaupt etwas wahrnahm. Er machte einen geschafften Eindruck. Zwar war er im Grunde ein schöner junger Mann, dem der Goldton seines Haars und seiner Haut etwas Leuchtendes verlieh, doch an Tagen wie diesem sah man das nicht. Sein Gesicht war verzerrt, das Licht daraus gewichen. Er wirkte angeschlagen und schwerfällig.
Stille erfüllte den Raum. Es war keine angstvolle, sondern eine friedliche Stille, und sie beide saßen mittendrin. Dies war ein Ort der Geborgenheit. Joe stieß einen langen Seufzer aus und wandte den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Schlimm?«, fragte Frieda. Sie schob ihm die Schachtel mit den Papiertaschentüchern hin.
Er nickte.
»Immerhin haben Sie es geschafft herzukommen. Das ist doch schon mal was.«
Er zog ein einzelnes Taschentuch aus der Schachtel, fuhr damit sanft über sein Gesicht, als wäre es wund, und tupfte sich dann die Tränen aus den Augen. Anschließend knüllte er es zusammen und legte es als feste feuchte Kugel auf der Tischplatte ab, ehe er den Prozess mit einem frischen Exemplar wiederholte. Schließlich beugte er sich vor und ließ das Gesicht in die Hände sinken. Nach einer Weile hob er den Kopf wieder und öffnete den Mund, als wollte er zum Sprechen ansetzen, doch es kamen keine Worte heraus. Auf Friedas Frage hin, ob er ihr etwas sagen wolle, schüttelte er nur verzweifelt den Kopf, wie ein in die Enge getriebenes Tier. Als es um sechs Uhr Zeit für ihn wurde aufzubrechen, hatte er noch kein einziges Wort von sich gegeben.
Frieda erhob sich und hielt ihm die Tür auf. Sie sah ihm nach, wie er mit offenen Schuhbändern die Treppe hinunterpolterte, und beobachtete anschließend durchs Fenster, wie er unten auf die Straße trat und an einer Frau vorbeiging, die ihm keine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Frieda warf einen
Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte noch eine Verabredung und musste sich fertig machen. Aber es eilte noch nicht.
Acht Stunden später schwang Frieda die Beine aus einem Bett, das nicht das ihre war. »Hast du was zu trinken da?«, fragte sie.
»Im Kühlschrank steht Bier«, antwortete Sandy.
Frieda ging in die Küche und nahm eine Flasche aus dem Fach in der Kühlschranktür. »Hast du auch einen Öffner?«, rief sie ins Schlafzimmer hinüber.
»Wenn wir zur Abwechslung mal zu dir gingen, wüsstest du, wo alles ist!«, rief er zurück und fügte dann hinzu: »In der Schublade neben dem Herd!«
Nachdem Frieda den Verschluss der Bierflasche entfernt hatte, kehrte sie ins Schlafzimmer von Sandys kleiner Wohnung im Barbican Centre zurück. Durchs Fenster blickte sie auf die Lichter hinunter, die in der Dunkelheit funkelten. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie nahm einen Schluck von dem Bier. »Wenn ich im fünfzehnten Stock wohnen würde, müsste ich die ganze Zeit aus dem Fenster sehen. Es ist, als stünde man auf dem Gipfel eines Berges.«
Sie kehrte zum Bett zurück. Sandy lag noch immer halb in sein Laken eingehüllt. Frieda ließ sich auf der Bettkante nieder und blickte auf ihn hinab. Er sah gar nicht aus wie ein Sandy, sondern war eher ein mediterraner Typ mit olivfarbener Haut und einem Haarschopf, der so blauschwarz glänzte wie ein Rabenflügel, von ein paar silbernen Strähnen mal abgesehen. Er erwiderte ihren Blick, ohne zu lächeln.
»Ach, Frieda«, sagte er.
Frieda erschien ihr Herz wie eine alte Truhe, die vom Meeresgrund geborgen und nach langer Zeit aufgestemmt worden war. Wer wusste, welche Schätze sie darin finden würde? »Möchtest du auch ein Bier?«
»Gib mir ein bisschen aus deinem Mund.«
Frieda nahm einen Schluck und beugte sich dann über ihn,
bis ihre Lippen sich fast berührten. Sie spürte, wie die kalte Flüssigkeit in seinen Mund tröpfelte. Er versuchte, alles zu erwischen, verschluckte sich und musste lachten.
»Wahrscheinlich schmeckt es aus der Flasche besser«, meinte sie.
»Nein«, widersprach er, »aus deinem Mund schmeckt es besser.«
Sie lächelten sich einen Moment an, dann wurden sie beide wieder ernst. Frieda legte eine Hand auf seine glatte Brust. Sie
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