Blauer Montag
schließlich nichts Illegales.
Als er ins Wartezimmer trat, fand er dort Alan Dekker vor, der zu seiner ersten Sitzung erschienen war. Reuben führte ihn in eines der drei Sprechzimmer der Klinik. Alan blickte sich um. »Ich habe mit einer Couch gerechnet«, erklärte er, »wie in den Filmen.«
»Man sollte nicht alles glauben, was man im Kino oder Fernsehen sieht. Ich halte es für besser, sich gegenüberzusitzen. Wie normale Menschen.«
Mit einer Handbewegung forderte er Alan auf, Platz zu nehmen. Der graue Sessel, auf den Reuben deutete, hatte eine harte, gerade Rückenlehne, die den Patienten zu einer aufrechten, dem Gesprächspartner zugewandten Sitzhaltung zwang. Reuben ließ sich ihm gegenüber nieder. Sie waren knapp zwei Meter voneinander entfernt. Weit genug auseinander, um kein bedrückendes Gefühl von Nähe aufkommen zu lassen, aber doch so nahe, dass niemand die Stimme erheben musste.
»Was wollen Sie nun von mir hören?«, fragte Alan. »Ich habe mit so etwas noch keine Erfahrung.«
»Sagen Sie einfach, was Ihnen einfällt«, antwortete Reuben. »Wir haben jede Menge Zeit.«
Es war erst drei oder höchstens vier Minuten her, dass Reuben seine letzte Zigarette ausgemacht hatte. Er hatte sie am Geländer draußen auf der Feuertreppe ausgedrückt, obwohl sie nur zur Hälfte geraucht war, und dann auf den asphaltierten Bereich darunter fallen lassen. Nun hatte er schon wieder Lust zu rauchen oder bekam den Gedanken an eine Zigarette zumindest nicht aus dem Kopf. Dabei ging es ihm gar nicht so sehr ums Rauchen an sich, sondern eher um eine Maßeinheit, mit der sich die Zeit in Abschnitte einteilen ließ. Außerdem hatte man dann etwas in der Hand, woran man sich festhalten konnte. Plötzlich wusste er nicht mehr, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Sie auf den Armlehnen seines Sessels abzulegen erschien ihm zu förmlich. Faltete er sie jedoch auf dem Schoß, empfand er seine Körperhaltung als nicht offen genug, als hätte er etwas zu verbergen. Unschlüssig wechselte er zwischen beiden Positionen hin und her.
Als Reuben die Klinik 1977 gegründet hatte, war er erst einunddreißig gewesen und bereits einer der berühmtesten Psychoanalytiker des Landes. Im Grunde hatte sein Projekt mehr Ähnlichkeit mit einer Gruppe oder Bewegung gehabt als mit einer Klinik. Er hatte eine Therapieform entwickelt, die eklektischer und weniger regelgebunden war als die damals üblichen Therapien. Dadurch sollte sich die ganze Disziplin verändern. Sein Bild erschien in Zeitschriften. Er wurde von Reportern interviewt. Er präsentierte Fernsehdokumentationen und schrieb Bücher mit Titeln, die mysteriös und sogar leicht erotisch klangen (Verlangen und erlernte Hilflosigkeit , Das spielerische Wesen der Liebe) . Begonnen hatte das alles im Wohnzimmer seines viktorianischen Reihenhauses in Primrose Hill, doch selbst dann, als die Klinik schließlich vom staatlichen Gesundheitsdienst bezuschusst wurde und nach Swiss Cottage umziehen konnte, bewahrte sie sich eine Aura von Boheme. Das
Warehouse war von einem modernistischen Architekten entworfen worden, der die Stahlträger und groben Ziegelwände des ursprünglichen Gebäudes beibehielt und dann eine Menge Glas und Edelstahl ins Spiel brachte. Ganz allmählich aber war irgendetwas verloren gegangen. Reuben fiel es schwer, sich einzugestehen, dass es niemals eine wirklich neue Therapieform gegeben hatte. Reuben McGill war ein gut aussehender und charismatischer Mann gewesen, der Kollegen und Patienten anzog wie ein religiöser Führer seine Jünger. Im Lauf der Jahre waren sowohl sein gutes Aussehen als auch sein Charisma langsam verblasst. Wie sich herausstellte, ließen sich seine therapeutischen Methoden schwer replizieren, und die Bandbreite der Fälle, für die sie geeignet schienen, wurde immer kleiner. Den Erfolg des Warehouse schmälerte das keineswegs, es genoss nach wie vor großes Ansehen. Die Klinik hatte das Leben einiger Leute verändert, aber die Welt würde sie nicht verändern.
Obwohl Reuben ein begnadeter Therapeut blieb, war in den letzten Jahren etwas passiert. Er hatte irgendwo gelesen, dass Piloten, die viele Jahre lang für eine Fluglinie gearbeitet hatten, ohne je einen Fehler zu machen, im Lauf der Zeit so etwas wie Flugangst entwickeln konnten. Angeblich gab es auch alte Schauspieler, die plötzlich unter so schlimmem Lampenfieber litten, dass sie es nicht mehr schafften, im Theater aufzutreten. Er hatte gehört, dass manche Therapeuten
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