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Blauer Montag

Blauer Montag

Titel: Blauer Montag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N French
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Bleistiftspitzers oder die Nadel ihres Kompasses. Olivia war nur dahintergekommen, weil sie die Badezimmertür geöffnet hatte, ohne anzuklopfen, und die Ritzspuren an den Armen und Oberschenkeln ihrer Tochter entdeckt hatte. Chloë hatte ihr einzureden versucht, das sei nicht der Rede wert, sie brauche deswegen kein solches Theater zu veranstalten, schließlich täten das alle, und es sei überhaupt nicht schlimm. Die Schuld daran gab sie sowieso Olivia, weil diese ihrer Meinung nach nicht verstand, wie man sich als Einzelkind fühlte, wenn einen die Mutter wie ein Baby behandelte und der Vater mit einer Frau davongelaufen war, die kaum älter war als die eigene Tochter. Widerlich . Wenn man das unter Erwachsensein verstand, wollte sie niemals erwachsen werden. Nach diesen Erklärungen hatte sie sich im Badezimmer eingeschlossen und sich geweigert, wieder herauszukommen – woraufhin Olivia Frieda anrief. Frieda eilte herbei und bezog auf den Stufen vor dem Bad Stellung. Sie rief zu ihrer Nichte hinein, dass sie da sei, falls Chloë mit ihr reden wolle, und dass sie eine Stunde warten werde. Zehn Minuten bevor ihre Zeit abgelaufen war, kam Chloë heraus. Ihr Gesicht war vom Weinen ganz verquollen, und sie hatte neue Ritzspuren an den Armen, die sie Frieda mit trotziger Wut zeigte: Da, schau, wozu sie mich gebracht hat … Dann redeten sie miteinander, besser gesagt stieß Chloë in bruchstückhaften Sätzen hervor, was für eine Erleichterung es sei, eine Klinge über ihre Haut zu ziehen und die kleinen roten Tropfen hervorquellen zu sehen, und was für eine Wut sie auf ihren erbärmlichen Vater empfinde, ganz zu schweigen von – o Gott! – ihrer hysterischen Mutter, und wie sehr sie sich vor ihrem eigenen heranwachsenden, sich verändernden Körper ekle. »Warum muss ich das alles durchmachen?«, schrie sie.
    Frieda war nicht der Meinung, dass Chloë sich noch ritzte,
fragte aber nie danach. Auch jetzt kommentierte sie weder die heruntergezogenen Ärmel noch die mürrische Miene ihrer Nichte, sondern konzentrierte sich wieder auf die Chemie.
    »Wenn Metalle mit Nichtmetallen reagieren, was passiert dann, Chloë?«
    Chloë gähnte laut und riss dabei den Mund weit auf.
    »Chloë?«
    »Keine Ahnung. Warum müssen wir uns an einem Freitagnachmittag mit diesem Mist beschäftigen? Ich wäre viel lieber mit meinen Freundinnen in die Stadt gegangen.«
    »Diese Diskussion hatten wir doch schon. Sie teilen sich Elektronen. Beginnen wir mit einer kovalenten Einfachbindung. Zum Beispiel Wasserstoff. Chloë?«
    Chloë murmelte irgendetwas Unverständliches.
    »Hörst du überhaupt zu, was ich sage?
    »Du hast Wasserstoff gesagt.«
    »Stimmt. Möchtest du ein Heft herausholen?«
    »Wozu?«
    »Es ist oft hilfreich, wenn man etwas niederschreibt.«
    »Weißt du, was Mum gemacht hat?«
    »Nein, weiß ich nicht. Papier, Chloë.«
    »Sie hat sich bei einer Partnervermittlungsagentur angemeldet.«
    Frieda klappte das Schulbuch zu und schob es von sich weg. »Hast du etwas dagegen?«
    »Was denkst du denn? Natürlich habe ich etwas dagegen.«
    »Warum?«
    »Das ist doch erbärmlich – als bräuchte sie ganz dringend Sex.«
    »Vielleicht ist sie ja nur einsam.«
    »Häh? Sie ist doch nicht allein!«
    »Du meinst, sie hat dich?«
    Chloë zuckte mit den Achseln. »Ich möchte nicht darüber sprechen. Du bist schließlich nicht meine Therapeutin.«

    »Gut«, meinte Frieda sanft, »dann lass uns zum Wasserstoff zurückkehren. Wie viele Elektronen hat Wasserstoff?«
    »Dir ist das alles egal, oder? Es interessiert dich kein bisschen. Mein Dad hatte recht mit dem, was er über dich gesagt hat!« Der Ausdruck auf Friedas Gesicht ließ sie verstummen. Chloë wusste inzwischen, dass jede Erwähnung von Friedas Verhältnis zu ihrer Familie streng verboten war, und trotz ihrer jugendlichen Aufsässigkeit hatte sie großen Respekt vor ihrer Tante und fürchtete ihre Missbilligung. »Eines«, stieß sie in mürrischem Ton hervor, »Wasserstoff hat nur ein einziges gottverdammtes Elektron.«

8
    W ährend des neurologischen Teils ihrer Ausbildung hatte Frieda einen Mann behandelt, der bei einem Autounfall schwere Kopfverletzungen davongetragen hatte. Dabei war derjenige Teil seines Gehirns beschädigt worden, der für das Erkennen von Gesichtern zuständig war. Plötzlich konnte der Mann die Leute nicht mehr unterscheiden: Für ihn war ein Gesicht nur noch eine Ansammlung von Merkmalen, ein Muster ohne emotionale Bedeutung. Er erkannte seine

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