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Blauer Montag

Blauer Montag

Titel: Blauer Montag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N French
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eine ähnliche Angst befiel: die Angst, kein richtiger Arzt zu sein und daher nicht die Art von Heilung anbieten zu können wie andere Zweige des Berufs, sondern nur sinnloses Geschwafel, nichts als Schall und Rauch und Täuschung. Diese Erfahrung hatte Reuben nie gemacht. Wie sah eine Heilung denn letztendlich aus? Er war sich ganz sicher, eine Art Heiler zu sein. Er wusste, dass er etwas für die Leute tun konnte, die zu ihm kamen, nachdem sie auf eine Weise verwundet worden waren, die sie nicht in Worte fassen konnten.

    Nein, in seinem Fall war die Erklärung viel einfacher und peinlicher. Plötzlich – oder war es ein schleichender Prozess gewesen? – hatte er angefangen, seine Patienten langweilig zu finden. Das war der wahre Unterschied zwischen der Psychoanalyse und anderen Formen der Medizin. Bei Letzteren berichtete der Patient von seinen Beschwerden, und dann machte man eine Röntgenaufnahme von einem Arm oder einer Brust oder warf einen Blick unter eine Zunge. Als Psychoanalytiker aber musste man sich die Symptome unzählige Male anhören, man musste immer weitermachen, Stunde für Stunde. In den ersten Jahren hatte Reuben das nicht so empfunden. Ganz im Gegenteil, manchmal hatte er sogar das Gefühl gehabt, einer besonders reinen Form von Literatur zu lauschen, einer mündlichen Literatur, die einer genauen Interpretation und Entschlüsselung bedurfte. Im Lauf der Zeit aber war er zu dem Schluss gelangt, dass es sich um eine schreckliche Art von Literatur handelte, eine vorhersehbare Literatur voller Klischees und Wiederholungen. Später hatte er dann gar nichts mehr Literarisches darin gesehen, sondern nur noch einen Schwall ungeschliffener, unreflektierter Wörter. Er hatte angefangen, sie an sich vorbeiströmen zu lassen wie einen Fluss oder einen Verkehrsstrom. Als stünde er auf einer Autobahnbrücke und würde beobachten, wie die Autos und Lastwagen unter ihm dahinrauschten: Menschen, von denen man nichts wusste und auch nichts wissen wollte. Sie redeten, und manchmal weinten sie auch, während er verständnisvoll nickte und dabei an ganz andere Dinge dachte oder die Zigarette herbeisehnte, die er exakt neun Minuten vor der vollen Stunde endlich rauchen durfte.
    »Diese Gedanken waren wie ein Krebsgeschwür«, sagte Alan gerade. »Wissen Sie, was ich meine?«
    Plötzlich entstand eine peinliche Pause.
    »Verzeihung?«, stieß Reuben hervor.
    »Ich habe gesagt: ›Wissen Sie, was ich meine?‹«
    »Inwiefern?«

    »Haben Sie mir überhaupt zugehört?«
    Eine weitere peinliche Pause. Verstohlen warf Reuben einen Blick auf seine Armbanduhr. Es waren bereits fünfundzwanzig Minuten der Sitzung vergangen. Er konnte sich an kein einziges Wort erinnern. Krampfhaft zermarterte er sich das Gehirn. »Haben Sie das Gefühl, man hört Ihnen nicht zu?«, fragte er schließlich. »Sollen wir darüber sprechen?«
    »Sparen Sie sich die Mühe«, antwortete Alan. »Sie haben mir nicht zugehört.«
    »Warum sagen Sie das?«
    »Wiederholen Sie irgendetwas von dem, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Nur einen einzigen Punkt. Egal, was.«
    »Es tut mir leid, Mr. … ähm …«
    »Erinnern Sie sich überhaupt an meinen Namen? Ich heiße James.«
    »Es tut mir leid, James …«
    »Mein Name ist nicht James, sondern Alan! Alan Dekker. Und jetzt gehe ich und beschwere mich über Sie. So werden Sie nicht davonkommen. Jemand wie Sie sollte nicht auf Patienten losgelassen werden.«
    »Alan, wir müssen …«
    Beide Männer erhoben sich, und einen Moment standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Reuben streckte einen Arm aus, um Alan am Ärmel festzuhalten, doch im letzten Moment zögerte er, hob beide Hände und ließ ihn gehen.
    »Ich fasse es nicht«, erklärte Alan. »Mir war ja von vornherein klar, dass das nichts bringen würde, aber es hieß, ich müsse dem Ganzen eine Chance geben. Es werde bestimmt helfen. Ich solle einfach kooperieren.«
    »Es tut mir leid«, flüsterte Reuben, aber Alan war bereits hinausgestürmt und hörte es nicht mehr.

7
    A m Freitagnachmittag war Frieda wieder in der Klinik, um sich aus der kleinen, hauseigenen Bibliothek ein paar Bücher zu holen. Sie brauchte sie für einen Vortrag, den sie in ein paar Wochen halten sollte. Die meisten Leute hatten bereits Feierabend gemacht, aber Paz war noch da und winkte Frieda zu sich.
    Paz arbeitete erst seit sechs Monaten im Warehouse. Sie war in London aufgewachsen, aber ihre Mutter stammte aus Andalusien. Von ihr hatte Paz die

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