Blauer Montag
Geheimhaltung verpflichtet bin? Und dass niemand je erfahren wird, was er mir erzählt hat?«
»Aber was ist der Sinn von dem ganzen Gerede, wenn er nichts tut?«
»Sie meinen, wie ein Mann, der es vorzieht zu schlafen, statt das Loch in der Decke zu schließen, durch das er gefallen ist?«
»Ich schließe es schon noch. Es dauert gar nicht mehr lang, dann bin ich fertig.«
»Ich weiß nicht, wieso ich überhaupt mit Ihnen über dieses Thema rede«, meinte Frieda, »aber ich sage es trotzdem: Ich kann Alans Leben nicht in Ordnung bringen. Es steht nicht in meiner Macht, ihm einen rothaarigen Sohn zu besorgen. Die Welt ist ein chaotischer, unberechenbarer Ort. Vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, kann ich ihm mit meinem Gerede, wie Sie es nennen, ein klein wenig helfen, besser mit alledem umzugehen. Das ist nicht viel, ich weiß.«
Josef rieb sich die Augen. Er wirkte noch immer nicht richtig wach. »Darf ich Ihnen als Wiedergutmachung ein Glas Wodka spendieren?«
Frieda warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Es ist drei Uhr nachmittags«, gab sie zu bedenken. »Sie dürfen mir als Wiedergutmachung eine Tasse Tee machen.«
Als Alan Frieda verließ, dämmerte es bereits. Der Wind hatte Regen im Schlepptau und wehte mit seinen kleinen Böen abgestorbenes Laub von den Bäumen. Der Himmel wirkte grau
und düster. Die Pfützen auf dem Asphalt schimmerten dunkel. Ziellos stolperte er durch irgendwelche Nebenstraßen, vorbei an unbeleuchteten Gebäuden. Er konnte noch nicht zurück nach Hause. Er war nicht bereit für Carries ängstliche Blicke, ihre sorgenvolle Nervosität. In dem warmen, hellen Praxisraum war es ihm ein wenig besser gegangen. Das kribbelige Flattern in seinem Innern hatte sich gelegt. Er hatte nur noch gespürt, wie müde er war, wie erschöpft. Fast hätte er einschlafen können, während er ihr gegenüber auf dem kleinen grauen Sofa saß und Dinge aussprach, die er zu Carrie nie sagen könnte, weil Carrie ihn liebte und er dem kein Ende setzen wollte. Er konnte sich genau vorstellen, wie seine Frau reagieren würde: wie sie einen Moment lang vor Kummer das Gesicht verziehen, diese Regung dann aber schnell unterdrücken würde. Diese Frau dagegen verzog nie eine Miene. Sie fand nichts von dem, was er sagte, verletzend oder abstoßend. Wenn sie schwieg, wirkte sie still und stumm wie ein Gemälde. Das war er nicht gewöhnt. Die meisten Frauen ermunterten einen durch zustimmendes Nicken oder Gemurmel zum Weitersprechen, achteten gleichzeitig aber darauf, dass man nicht zu weit ging. Sie hielten einen in der richtigen Spur. Zumindest war seine Mutter so gewesen, und seine Kolleginnen Lizzie und Ruth waren auch so. Und natürlich Carrie.
Nun, nachdem er die Praxis verlassen hatte, fühlte er sich allerdings nicht mehr so gut. Die beunruhigenden Gefühle brachen wieder über ihn herein oder stiegen in ihm hoch. Er wusste nicht, woher sie kamen. Am liebsten wäre er in das Sprechzimmer zurückgekehrt – wenigstens so lange, bis diese Gefühle sich wieder beruhigt hatten. Wobei allerdings zu befürchten war, dass Frieda darüber gar nicht begeistert wäre. Ihm fiel wieder ein, wie sie zu ihm gesagt hatte, jede Sitzung dauere genau fünfzig Minuten. Sie war streng, dachte er und fragte sich, was Carrie wohl von ihr halten würde. Sie würde Frieda wahrscheinlich als »harte Nuss« bezeichnen. Eine harte Nuss, die schwer zu knacken war.
Zu seiner Linken befand sich eine kleine, umzäunte Grünfläche mit je einer Bank an beiden Seiten. Auf der einen saßen ein paar Saufbrüder und tranken Cider aus Dosen. Alan stolperte über den Rasen und ließ sich auf der anderen Bank nieder. Das leichte Nieseln wuchs sich allmählich zu einem richtigen Regen aus: Alan spürte die Tropfen bereits auf dem Kopf und hörte sie auf das feuchte Laub platschen, das in Häufchen auf dem Boden lag. Er schloss die Augen. Nein, dachte er, Carrie verstand ihn nicht. Frieda im Grunde auch nicht. Er war allein. Das war das Grausamste. Allein und unvollständig. Schließlich stand er wieder auf.
Es war, als hätte es so sein sollen. Man konnte es nennen, wie man wollte: Bestimmung, Schicksal, irgendetwas in den Sternen. Der kleine Junge mit dem roten Haar und den Sommersprossen war ganz allein. Seine Mutter kam wieder zu spät. Sie würde schon sehen, wozu das führte. Nun blickte der Kleine sich um. Er starrte auf das offene Tor, hinaus auf die Straße. Komm. Komm schon, mein Kleiner. Komm durch das Tor. Ja,
Weitere Kostenlose Bücher