Blauer Montag
genau. Das ist die richtige Richtung. Nicht so hastig. Schau dich nicht um. Komm zu mir. Ja, komm. Jetzt gehörst du mir.
Seine Mutter hatte einen leuchtend blauen Regenmantel und rotes Haar. Sie stach aus jeder Menge hervor. Heute aber hatte sie nicht mit den übrigen Müttern am Tor gestanden, und die meisten anderen Kinder waren schon weg. Er wollte nicht, dass Mrs. Clay ihn im Klassenzimmer warten ließ. Nicht schon wieder. Ihm war klar, dass er eigentlich nicht allein nach Hause gehen durfte, aber er kannte den Weg. Außerdem würde ihm seine Mutter sowieso irgendwo entgegenkommen – im Laufschritt und mit halb aufgelöster Frisur, weil sie so spät dran war. Unauffällig schob er sich in Richtung Tor. Anfangs hatte Mrs. Clay ihn noch im Auge, aber dann musste sie sich die Nase putzen. Dabei bedeckte sie ihr ganzes faltiges Gesicht mit
einem großen weißen Taschentuch. In dem Moment entwischte er. Niemand sah ihn hinausschlüpfen. Draußen auf der Straße entdeckte er in einer flachen Pfütze eine Pfundmünze. Nachdem er sich umgeschaut hatte, um sicherzugehen, dass sich niemand einen Scherz mit ihm erlaubte, hob er die Münze auf und rieb sie mit einem Zipfel seines Hemds trocken. Wenn seine Mutter ihm nicht vorher entgegenkam, würde er sich im Laden an der Ecke Süßigkeiten oder eine Tüte Chips kaufen. Er ließ den Blick die Straße entlangwandern, konnte sie aber immer noch nicht sehen.
13
S chon vor sehr langer Zeit hatte Frieda gelernt, ihr Leben so zu organisieren, dass es heiter und verlässlich wie ein Wasserrad dahinlief – ein Rad, bei dem jedes Segment in Bewährtes eintauchte, ehe es wieder nach oben strebte. So verlebte sie einen vertrauten Tag nach dem anderen mit dem guten Gefühl, klar umrissenen Zielen zu folgen: Ihre Patienten kamen an den vereinbarten Tagen, sie traf sich mit Reuben, unternahm etwas mit Freunden, unterrichtete Chloë in Chemie und saß abends mit einem Buch am Kamin oder fertigte in ihrem Arbeitszimmer oben unter dem Dach mit einem weichen Bleistift kleine Zeichnungen an. Olivia betrachtete Ordnung als eine Art Gefängnis, das einen davon abhielt, neue Erfahrungen zu machen. Dagegen war es für sie ein Ausdruck von Freiheit, wenn man leichtsinnig und chaotisch lebte. Nach Friedas Meinung aber gab einem Ordnung die Freiheit zu denken – seine Gedanken in den Raum hineinfließen zu lassen, den man für sie geschaffen hatte, und die richtige Bezeichnung und Form für Ideen und Gefühle zu finden, die im Lauf des Tages das Wasser trübten wie Schlamm oder Tang. Indem man sie benannte, bettete man sie sozusagen zur Ruhe. Manche Dinge aber wollten nicht ruhen. Sie waren wie aufgewühlter Schlamm, der sich unter der Oberfläche bewegte und Frieda Unbehagen bereitete.
Jetzt gab es in ihrem Leben auf einmal Sandy. Sie aßen, redeten und schliefen miteinander, doch dann kehrte Frieda nach Hause zurück, ohne bei ihm zu übernachten. Auf eine sehr komplizierte, beunruhigende und aufregende Weise fingen sie gerade an, eine Bindung aufzubauen, einander immer besser kennenzulernen, einander zu erforschen und Dinge anzuvertrauen.
Wie weit wollte sie ihn in ihr Leben lassen? Wollte sie Teil eines Paars werden und in Zukunft zu zweit durchs Leben marschieren wie zwei Bergsteiger an einem Seil?
Nun hatte Sandy zum ersten Mal in ihrem Haus übernachtet. Frieda hatte ihm nicht verraten, dass noch kein anderer Mann dort über Nacht geblieben war, seit sie es gekauft hatte. Sie waren im Kino gewesen, hatten danach in einem kleinen italienischen Restaurant in Soho zu später Stunde noch eine Kleinigkeit gegessen und waren anschließend zu ihr gegangen. Schließlich lag ihr Haus ganz in der Nähe, da bot sich das an, hatte sie erklärt, als wäre es ein spontaner Entschluss und kein entscheidender Schritt. Inzwischen war Sonntagmorgen. Frieda war sehr früh aufgewacht und hatte beim Anblick der Gestalt neben ihr einen Schreck bekommen. Dann war es ihr wieder eingefallen. Sie war leise aus dem Bett gekrochen, hatte geduscht und war dann hinuntergegangen, um Feuer im Kamin und sich eine Tasse Kaffee zu machen. Dass sich außer ihr noch jemand im Haus befand, fühlte sich seltsam an und brachte sie irgendwie aus dem Konzept. Wann würde er nach Hause gehen? Was, wenn er es nicht tat?
Als Sandy herunterkam, war Frieda gerade damit beschäftigt, die Rechnungen und Geschäftsbriefe zu öffnen, die sie immer bis zum Wochenende liegen ließ.
»Guten Morgen!«
»Hallo.« Sie klang so
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