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Blauer Montag

Blauer Montag

Titel: Blauer Montag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N French
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ist klein und mager, vielleicht noch recht kindlich für sein Alter, obwohl sich das schwer sagen lässt. Anfangs bleibt er ein Stück hinter seinen Klassenkameraden zurück. Nervös hält er Ausschau, wo er willkommen sein könnte. Er trägt eine Jeans, die ihm ein wenig zu groß ist, und eine dicke Jacke, die ihm fast bis zu den Knien reicht. Er kommt näher. Er hat runde braune Augen und kupferrote Sommersprossen. Sein Haar ist zunächst unter einer grauen Wollmütze mit Bommel verborgen, doch dann nimmt er die Mütze ab. Er hat leuchtend rotes Haar. Es ist ein Zeichen, ein Geschenk – perfekt.
    Nun ist es nur noch eine Frage der Zeit. Man darf keinen Fehler machen. Nie wieder wird ein Kind so perfekt sein wie dieses .

12
    J osef mochte diese Art zu arbeiten. Die Kunden waren nicht da und schauten höchstens alle zwei Wochen mal vorbei. Die meiste Zeit konnte er in der Wohnung schlafen und auch dort essen, wenn er wollte. In der Vergangenheit hatte er hauptsächlich als Teil eines Teams gearbeitet. Das hatte er in vielerlei Hinsicht auch gut gefunden: all die Leute mit ihren verschiedenen Fachgebieten – der Verputzer, der Zimmermann, der Elektriker. Man kam sich vor wie in einer Art Familie, deren Mitglieder diskutierten und sich stritten, letztendlich aber doch miteinander auszukommen versuchten. Verglichen damit war das hier fast ein Urlaub. Er konnte arbeiten, wann er wollte, sogar mitten in der Nacht, wenn es draußen dunkel und still war, zumindest für städtische Verhältnisse. Dafür konnte er manchmal tagsüber, zum Beispiel an einem Tag wie diesem, wenn ihm gegen zwei Uhr nachmittags die Augenlider schwer wurden, sein Werkzeug weglegen und sich ein wenig ausstrecken. Er schloss die Augen und dachte eine Weile über das Problem mit dem Loch nach – darüber, wie weit er es vergrößern musste, um das beschädigte Holz und den gerissenen Putz zu entfernen. Plötzlich dachte er ohne besonderen Grund an seine Frau Vera und die Jungs. Er hatte sie seit dem Sommer nicht mehr gesehen und fragte sich, was sie wohl gerade taten. Dann verblasste ihr Bild allmählich, als tauchten sie in einen Nebel ein, aber nur ganz langsam, sodass er nicht genau sagen konnte, ab wann er sie nicht mehr sah. Ohne es zu merken war er eingeschlafen und träumte Dinge, an die er sich nicht mehr erinnern würde, wenn er aufwachte, weil er sich nie an seine Träume erinnerte.

    Zuerst dachte er, die Stimme wäre Teil seines Traums. Es handelte sich um eine Männerstimme, und noch ehe Josef die Bedeutung der Worte begriff, spürte er ihre Traurigkeit – eine besondere, schmerzliche Art von Traurigkeit, die bei einem Mann fast seltsam anmutete. Nach einer Pause meldete sich eine andere Person zu Wort. Diese Stimme kannte Josef. Es war die Frau von unten, die Ärztin. Als Josef vorsichtig die Hand hob, spürte er unter seinen Fingern die raue Oberfläche der Spanplatte. Über ihm fiel Licht durch das Loch in der Decke. Obwohl er vom Schlaf noch ganz benommen war, dämmerte ihm allmählich, wo er sich befand: auf dem Boden ihres Praxisraums. Während er nebenan weiter die beiden Stimmen hörte – die unsichere des Mannes und die klare, ruhige der Frau –, wurde ihm immer mulmiger zumute. Er belauschte gerade eine Beichte, die nicht für die Ohren eines Dritten bestimmt war. Sein Blick fiel auf die Leiter. Wenn er jetzt versuchte hinaufzusteigen, hörten ihn die beiden bestimmt. Besser, er blieb einfach liegen, wo er war. In der Hoffnung, dass es bald vorbei sein würde.
    »Meine Frau war böse auf mich«, berichtete der Mann. »Es kam mir fast so vor, als wäre sie eifersüchtig. Sie wollte genau wissen, was ich Ihnen erzählt habe.«
    »Und? Haben Sie es ihr gesagt?«
    »Mehr oder weniger«, antwortete der Mann. »Eine abgemilderte Version. Doch während ich es ihr erzählte, bekam ich plötzlich das Gefühl, dass ich Ihnen gar nicht alles gesagt habe.«
    »Was haben Sie mir denn verschwiegen?«
    Nun folgte eine lange Pause. Josef konnte seinen eigenen Herzschlag hören und den Alkohol in seinem Atem riechen. Wie war es möglich, dass die beiden ihn weder hörten noch rochen?
    »Kann ich hier wirklich alles sagen?«, fuhr der Mann schließlich fort. »Ich frage das deswegen, weil mir bei meiner
Diskussion mit Carrie klar geworden ist, dass ich sonst immer nur bestimmte Dinge zur Sprache bringen kann. Dass es immer eine Art Grenze gibt. Mit meiner Frau rede ich nur über Dinge, die man als Mann eben mit seiner Ehefrau

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