Blauer Montag
kurz angebunden, dass Sandy fragend die Brauen hob.
»Ich kann sofort gehen«, erklärte er, »oder du machst mir eine Tasse Kaffee, und ich verschwinde dann.«
Frieda blickte auf und lächelte, wenn auch ein wenig gequält. »Entschuldige. Ich mache dir einen Kaffee. Oder …«
»Ja?«
»Normalerweise gehe ich am Sonntagmorgen immer in das Café gleich um die Ecke. Dort frühstücke ich und lese die Zeitung. Dann spaziere ich zum Markt in der Columbia Road
und kaufe mir Blumen oder schaue sie mir einfach nur an. Du kannst mitkommen, wenn du magst.«
»Ja, gern.«
Gewöhnlich frühstückte Frieda am Sonntag immer das Gleiche: einen getoasteten Zimtbagel und eine Tasse Tee. Sandy bestellte sich eine Schüssel Porridge und einen doppelten Espresso. Kerry, die ihre Bestellungen entgegennahm, bemühte sich um eine geschäftsmäßige Miene. Als sie jedoch Friedas Blick auffing, zog sie anerkennend die Augenbrauen hoch, was Frieda mit einem Flunsch quittierte. Kerry ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Allerdings hatten sie und Marcus ohnehin wenig Zeit für die beiden, weil sich die Nummer 9 rasch füllte. Nur Katya war ohne Beschäftigung und wanderte zwischen den Tischen umher. Hin und wieder machte sie am Tisch von Sandy und Frieda halt, befeuchtete ihren Zeigefinger und steckte ihn in die Zuckerdose, um ihn anschließend genüsslich abzulecken.
Neben der Theke lag immer ein Stapel Zeitungen. Frieda holte ein paar davon und legte sie zwischen sich und Sandy. Dabei hatte sie plötzlich das beunruhigende Gefühl, dass sie beide sich im Lauf der letzten Tage in ein typisches Pärchen verwandelt hatten – eines, das zusammen Veranstaltungen besuchte, die Nacht miteinander verbrachte und am Sonntagmorgen in einvernehmlichem Schweigen Zeitung las. Sie biss ein großes Stück von ihrem Bagel ab und trank einen Schluck Tee. War das denn so schlimm?
Während der Woche kam Frieda selten dazu, die Zeitung von vorn bis hinten zu lesen, deshalb gönnte sie sich diesen Luxus meist am Sonntag. In der letzten Zeit aber war sie ganz auf Sandy fixiert gewesen. Irgendwie hatte sie zugelassen, dass sich ihre Welt nur noch um ihn und ihre Arbeit drehte. Nun machte sie Sandy gegenüber eine dahingehende Bemerkung. »Wobei es vielleicht gar nicht schadet, hin und wieder vom Geschehen auf der Welt abgeschnitten zu sein«, fügte sie hinzu.
»Ändern kann ich ja sowieso nichts daran. Deshalb muss ich auch nicht unbedingt wissen, ob irgendwelche Aktien um einen Punkt gestiegen sind oder nicht. Oder dass jemand, den ich nicht kenne, einer Person, die ich ebenso wenig kenne, etwas Schreckliches angetan hat. Oder dass eine Berühmtheit, von der ich noch nie etwas gehört habe, mit einer anderen Berühmtheit Schluss gemacht hat, von der ich auch noch nie etwas gehört habe.«
»Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich eine Schwäche für die Klatschspalten habe«, entgegnete Sandy. »Ich … Was ist?«
Frieda hörte ihm nicht mehr zu. Sie war plötzlich ganz von einer Nachricht gefangen, die sie gerade überflog.
Sandy beugte sich zu ihr hinüber und las die Schlagzeile: »›Kleiner Mattie immer noch vermisst: Mums tränenreicher Hilferuf‹. Davon hast du doch bestimmt gehört. Es ist gerade erst passiert. Gestern waren alle Zeitungen voll davon.«
»Nein«, murmelte Frieda.
»Stell dir vor, was die Eltern durchmachen müssen.«
Frieda betrachtete das drei Spalten breite Foto eines kleinen Jungen mit leuchtend rotem Haar, Sommersprossen und einem schiefen Grinsen im Gesicht. Der Blick seiner braunen Augen war dem Fotografen zugewandt. »Freitag«, sagte sie.
»Wahrscheinlich ist er inzwischen schon tot. Die arme Lehrerin, die ihn nicht aufgehalten hat, tut mir leid. Sie ist zu einer Zielscheibe des Hasses geworden.«
Frieda hörte gar nicht so richtig, was er sagte. Sie überflog den Rest des Artikels über Matthew Faraday, der am Freitagnachmittag unbemerkt aus seiner Grundschule in Islington entwischt war und zuletzt gesehen worden war, als er auf einen etwa hundert Meter entfernten Süßwarenladen zusteuerte. Frieda griff nach einer anderen Zeitung und las dieselbe Geschichte noch einmal. Diese zweite Version war ein wenig lebendiger geschrieben und brachte als Zusatzinformation die
Meinung eines Experten für Täterprofile. Frieda blätterte nacheinander alle Zeitungen durch – wie es schien, waren alle Blickwinkel abgedeckt worden: Es gab Artikel über das Leid der Eltern, über die polizeilichen
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