Blauer Montag
ihr eine Hand auf den Arm. »Entschuldigen Sie!«
Als sie sich umdrehte, lief ihm ein Schauder über den Rücken. Er hatte mit einer Frau gerechnet, die jung und schön oder zumindest sexy war – jedenfalls hatte er das aus Alans Geschichte herausgelesen. Aber diese Frau war nicht jung. Sie hatte einen Hängebusen, ihr Gesicht war von Falten und Furchen durchzogen, und unter dem dick aufgetragenen Make-up wirkte ihre Haut blass. An der Stirn hatte sie einen Ausschlag. Ihre schwarz umrandeten, von dick getuschten Wimpern umrahmten Augen wiesen rote Flecken auf. Auf Jack machte sie einen müden, kranken und mitgenommenen Eindruck. »Was kann ich für dich tun, Süßer?« Sie verzog das Gesicht zu einem angedeuteten Lächeln.
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach so anspreche. Ich wollte Sie nur etwas fragen.«
»Ich heiße Heidi.«
»Also … Heidi … ich … es ist schwer zu erklären, aber …«
»Du bist einer von der schüchternen Sorte, was? Für dreißig Pfund blase ich dir einen.«
»Ich wollte nur kurz mit Ihnen sprechen.«
»Sprechen?« Er spürte ihren kühlen Blick und lief knallrot an. »Wir können uns gerne unterhalten, wenn du möchtest«, fuhr sie fort, »aber es kostet trotzdem dreißig Pfund.«
»Es geht doch nur um …«
»Dreißig Pfund.«
»Ich glaube nicht, dass ich so viel bei mir habe.«
»War wohl eine spontane Idee von dir, mich aufzuhalten, was? Da vorne ist ein Bankautomat.« Sie deutete in die Richtung. »Danach kannst du mich gerne besuchen kommen, wenn du immer noch reden möchtest. Ich wohne in 41 B. Oberste Klingel.«
»Ich glaube, Sie haben mich missverstanden.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Dreißig Pfund, und ich verstehe dich so gut, wie du nur willst.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und überquerte die Straße.
Jack schaute ihr nach. Am liebsten hätte er auf der Stelle das Weite gesucht. Aus irgendeinem Grund schämte er sich. Andererseits konnte er jetzt ja wohl kaum kneifen, nachdem er sie tatsächlich gefunden hatte. Also ging er zum Bankautomaten, hob vierzig Pfund ab und begab sich dann zu Nummer 41 B. Die Wohnung lag über einer ehemaligen Halal-Metzgerei, die einem Schild zufolge inzwischen zugemacht hatte. Die heruntergelassenen Metallrollläden zierten Graffiti. Jack holte tief Luft. Er hatte das Gefühl, dass alle Passanten ihn anstarrten und in sich hineingrinsten, während er den obersten Klingelknopf drückte. Heidi betätigte den Türöffner.
Sie trug ein weit ausgeschnittenes, lindgrünes Oberteil. Laut Alan roch sie nach Hefe, doch nun war sie eindeutig mit Parfüm eingesprüht. Außerdem hatte sie sich die Lippen frisch nachgezogen und ihr Haar gebürstet.
»Komm rein und setz dich.«
Jack betrat ein kleines, schummrig beleuchtetes Wohnzimmer, in dem eine drückende Hitze herrschte. Die violetten Vorhänge waren zugezogen. An der gegenüberliegenden Wand hing über einem großen, niedrigen Sofa eine Reproduktion der Mona Lisa. Auf jedem freien Fleck standen Porzellanfigürchen.
»Ich sollte vorab gleich klarstellen, dass ich nicht das bin, wofür Sie mich halten«, verkündete Jack mit viel zu lauter Stimme, nachdem er sich gesetzt hatte. »Ich bin Arzt.«
»Schon gut.«
»Ich würde Sie gerne etwas fragen.«
Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Ihr Blick wurde wachsam und misstrauisch. »Du bist gar kein Freier?«
»Nein.«
»Was willst du dann von mir? Ich brauche keinen Arzt. Ich bin gesund, und clean bin ich auch, falls du das meinst.«
Jack wusste sich langsam keinen Rat mehr. »Sie kennen da so einen Mann«, sagte er, »mit rotem Haar.«
Heidi ließ sich aufs Sofa sinken. Jack fiel auf, wie müde sie
wirkte. Sie griff nach einer Flasche süßem Dubonnet, der neben ihren Füßen auf dem Boden stand, goss ein kleines Glas bis zum Rand voll und kippte es so schnell hinunter, dass ihre Kehle sichtlich Mühe damit hatte. An ihrem Kinn schimmerte eine schmale Speichelspur. Sie griff nach der Schachtel Zigaretten, die vor ihr auf dem Tisch lag, zündete sich eine an und inhalierte gierig. Sofort hing Rauchgeruch in der drückend heißen Luft.
»Sie haben ihn kürzlich auf der Straße geküsst.«
»Was du nicht sagst!«
Jack zwang sich weiterzusprechen, obwohl er sich so unbehaglich fühlte, dass er nervös auf seinem Platz herumrutschte. Er sah sich selbst plötzlich mit den Augen dieser Heidi. Vermutlich wirkte er auf sie wie ein verklemmter, ein wenig linkischer junger Mann, der seine pubertären
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