Blauer Montag
mit jemandem verwechselt hat und wir der Sache gar keine große Bedeutung beizumessen brauchen.«
»Kannst du dir vorstellen, auf eine junge Frau zuzugehen und sie tatsächlich aus Versehen zu küssen?«
Jack war schwer in Versuchung, ein, zwei Exemplare zu nennen, bei denen ihm das nur allzu leicht passieren könnte, riss sich dann aber zusammen. »Er muss dem Mann, mit dem sie ihn verwechselt hat, ziemlich ähnlich sehen«, antwortete er. »Vorausgesetzt, die Begegnung hat wirklich stattgefunden. Aber wenn ich eine Sache von dir gelernt habe, dann die, dass unsere Aufgabe primär darin besteht, uns mit den Vorgängen im Kopf des Patienten auseinanderzusetzen. So gesehen ist es im Grunde gar nicht so wichtig, ob die Sache wirklich passiert ist oder nicht. Wir müssen uns vielmehr darauf konzentrieren, welche Bedeutung Alan selbst der Geschichte beimisst und aus welchem Grund er sie dir erzählt hat.«
Frieda runzelte die Stirn. Es war ein seltsames Gefühl, die eigenen Worte derart vorgekaut zu bekommen. Sie klangen dogmatisch und wenig überzeugend. »Nein«, entgegnete sie. »Es macht einen großen Unterschied, ob jemand – aus welchen Gründen auch immer – oft mit anderen verwechselt wird, oder ob er sich nur einbildet, mit anderen verwechselt zu werden. Meinst du nicht auch, dass es interessant wäre herauszufinden, ob die besagte Begegnung tatsächlich stattgefunden hat?«
»Interessant wäre es vielleicht schon«, entgegnete Jack, »aber es ist praktisch unmöglich. Du müsstest den ganzen Tag um den Victoria Park herumwandern und auf den unwahrscheinlichen Zufall hoffen, dass dir eine Frau über den Weg läuft, die zwei Tage zuvor mal in der Gegend war – und die du vermutlich nicht mal erkennen würdest, weil du nicht genau weißt, wie sie aussieht.«
»Ich hatte eigentlich gehofft, du würdest dich freiwillig melden«, sagte Frieda.
»Oh.« Jack war versucht, sie darauf hinzuweisen, dass das alles nichts mit seiner Ausbildung zu tun habe und dass es unprofessionell von ihr sei, ihn darum zu bitten. Außerdem waren seine Chancen, die Frau zu finden, gleich null, und selbst wenn er sie tatsächlich finden sollte, lohnte es die Mühe doch
gar nicht. Er überlegte sogar einen Moment, ob es nicht irgendeine Vorschrift gab, die es einem Therapeuten untersagte, ohne Einwilligung des Patienten Nachforschungen über diesen anzustellen. Aber er hielt den Mund. Eigentlich freute es ihn ja, dass Frieda ihn darum bat. Auf eine seltsame Art freute es ihn sogar noch mehr, dass sie ihn bat, etwas so Ungewöhnliches für sie zu tun. Hätte es sich um normale zusätzliche Arbeit gehandelt, hätte er sie als lästige Pflicht empfunden. Diese Sache aber war ein bisschen ungehörig und hatte daher etwas Vertrauliches. Oder machte er sich da nur etwas vor?
»Na schön.«
»Sehr gut.«
»Frieda!«, rief eine Stimme hinter seinem Rücken, und bevor er sah, wer es war, registrierte er Friedas Miene, die sich schlagartig verfinsterte.
»Was machst du denn schon hier?«
Jack drehte sich um. Hinter ihm stand eine langbeinige junge Frau mit aschblondem Haar. Ihr Gesicht war stark geschminkt, wirkte unter der dicken Schicht Farbe aber noch sehr jung und unfertig.
»Ich komme zu meiner Chemiestunde. Du hast doch selbst gesagt, wir könnten uns zur Abwechslung heute mal hier treffen.« Neugierig musterte sie Jack, der prompt rot wurde.
»Du bist früh dran.«
»Das sollte dich doch eigentlich freuen.« Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch und zog ihre Handschuhe aus. Ihre Fingernägel waren abgekaut und dunkellila lackiert. »Draußen ist es so kalt. Ich brauche dringend was Warmes zu trinken. Willst du uns denn nicht vorstellen?«
»Jack wollte sowieso gerade aufbrechen«, antwortete Frieda kurz angebunden.
»Ich bin Chloë Klein.« Sie streckte ihm die Hand hin, und er schüttelte sie. »Friedas Nichte.«
»Jack Dargan«, stellte er sich vor.
»Woher kennt ihr beiden euch denn?«
»Das geht dich gar nichts an«, mischte Frieda sich hastig ein, »denn jetzt ist Chemie angesagt.« Sie nickte zu Jack hinüber. »Vielen Dank für deine Hilfe.«
Er verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und erhob sich.
»Es war nett, dich kennenzulernen«, sagte Chloë. Sie wirkte recht zufrieden mit sich.
Jack war in Hackney Wick ausgestiegen. Nach einem Blick auf seinen Stadtplan wandte er sich der Seite zu, wo der Grand Union Canal in östlicher Richtung vom Fluss Lea abzweigte. Er trug ein Sweatshirt, einen Pulli, eine
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